Text: Elena Lynch
Medium: Walliser Bote, 1.2.2022
Eine Frau ist in Griechenland im Urlaub. Sie heisst Leda Caruso, ist 48 und Professorin. Sie geht allein zum Strand, allein ins Restaurant. Gestört werden Ruhe und Routine nur durch Erinnerungen, die sie einholen. Am Strand beobachtet sie Tag für Tag eine junge Mutter und ihre Tochter. Als die Tochter verloren geht, aber wiedergefunden wird, sieht sich Leda in die junge Mutter und in ihre eigene Vergangenheit versetzt: Sie sieht, wie sie als junge Mutter selbst nach ihrer Tochter suchte, auch am Strand, auch in Panik, auch sie fand sie wieder.
Später sieht sie, wie sie in der Vergangenheit versuchte zu studieren, mit Kopfhörer auf den Ohren, wie die Kinder schrien, wie sie es hörte, aber nicht hinhörte, wie ihr Mann telefonierte und sie aufforderte auf das Geschrei einzugehen, mit der Begründung: «Ich arbeite.», wie sie energisch aufstand und antwortete: «Ich ersticke.»
Noch später offenbart sie in einem Gespräch, dass sie ihre Kinder verlassen und während drei Jahren nicht gesehen habe. Grossartig sei es gewesen. Warum sie zurückgegangen sei, wenn es grossartig gewesen sei? «Ich bin zurückgegangen, weil ich sie vermisst habe. Ich bin eine egoistische Person.»
Die Szenen gehören zum Film «The Lost Daughter» von Maggie Gyllenhaal, der auf Netflix zu sehen ist und auf einem Buch von Elena Ferrante basiert. Im Film bezeichnet sich Leda als «egoistische» und als «unnatürliche» Mutter, als würde sie die gesellschaftliche Kritik vorwegnehmen wollen. Denn eine Mutter, die ihre eigene Mutterschaft nicht mag, das ist ein Ding, das nicht sein darf. Doch Mutterschaft ist keine einheitliche Erfahrung, jede Frau (er)lebt sie anders. Die einen nehmen sie an, die anderen lehnen sie ab. Und trotzdem scheint es als wäre Mutter zu werden der einzig gangbare Weg für eine Frau. Wer ihn nicht (gerne) geht, steht abseits.
Denken Frauen über Mutterschaft nach, fehlt es ihnen oft an alternativen Vorbildern. Schliesslich waren ihre Mütter auch Mütter. Was die in der Regel sagen, ist, dass es das schönste ist, was ihnen je passiert ist. Zuzugeben, dass es anders ist, dass sie es bereuen Mutter zu sein, würde bedeuten, dass sie es bereuen Kinder zu haben. So einfach ist es aber nicht, wie eine Studie der israelischen Soziologin Orna Donath zeigt. Für ihr Buch «Wenn Mütter bereuen» hat sie mit 23 Müttern gesprochen. Wie Leda, bereuen sie allesamt Mutter zu sein, aber nicht, Kinder zu haben. Das ist eine notwendige Nuance.
Die Reue, die diese Frauen empfinden, entspringt vor allem aus der (späten) Erkenntnis, dass die Mutterschaft ihnen zwar etwas Wertvolles gegeben hat, aber auch etwas Wertvolles genommen hat: Ihre Freiheit, ihr Selbst… Wer dem Wertvollen hinterher trauert, dem wird Egoismus vorgeworfen. Leda verliess ihre Kinder, weil sie sich weiterentwickeln wollte, in ihren Studien, in ihrem Selbst. Es fällt schwer so etwas zu schreiben, ohne zu denken: Wie konnte sie nur?
Wie Mütter zu ihren Kindern stehen, wird immer streng beurteilt. Für Donath gibt es so etwas wie eine «Ideologie der Mutterschaft», die so dominant ist, dass die Reue, Mutter geworden zu sein, oftmals als Folge mütterlichen Versagens verstanden wird – von der Gesellschaft, und somit auch von den Müttern. Wer es nicht schafft, ist selbst schuld, hat sich zu wenig angestrengt. Mutterschaft ist längst Teil der Leistungsgesellschaft.
Überhaupt ist es mit der Mutterschaft und der Reue so eine Sache. Das Beispiel von Leda zeigt, dass Mutterschaft nicht nur Verwirklichung, sondern auch Verlust bedeuten kann. Eine Ambivalenz, der bisher bedauerlicherweise wenig Aufmerksamkeit zugekommen ist. Das soziale Skript geht anders: Mutter zu sein, kann man nicht bereuen, nicht Mutter geworden zu sein, hingegen schon. Wie viele Frauen werden Mütter, aus Angst es nicht geworden zu sein? Woher kommt diese Angst, von innen oder von aussen? Hängt das innen nicht auch vom aussen ab – oder ist das zu strukturalistisch gedacht?
Letztlich geht es bei «The Lost Daughter» aber nicht um Reue, sondern um eine Person, die durchaus fürsorglich auftritt – nur bezieht sie diese Fürsorge nicht nur auf andere, sondern auch auf sich selbst. Das Wort «Reue» fällt im Film kein einziges Mal.