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Zug für Zug, Bahn für Bahn: Schwimmen heisst leben und überleben. © (KEYSTONE/Petra Orosz)

Über Wasser halten

Unsere Autorin findet nirgends so zu sich selbst wie auf den Bahnen im Hallenbad.

Text: Elena Lynch

Medium: NZZ am Sonntag Magazin, 9. November 2025

 

Ich schwimme, weil ich einmal fast ertrunken bin. Ich dürfte im Kindergartenalter gewesen sein, als ich meinen Mickey-Mouse-Schwimmring ins tiefe Ende eines Hotelpools warf, mit dem Plan, beim Hineinspringen in seinem Loch zu landen. Das klappte natürlich nicht, der Ring rutschte davon. Ich hundeschwamm ihm hinterher, doch die Wellen, die ich dabei erzeugte, liessen ihn immer weiter von mir weggleiten, ich schluckte Wasser, tauchte unter, kam wieder hoch, sah, dass der Ring am anderen Ende des Beckens angelangt war, und wusste: Er war zu weit weg. In dem Moment sprang ein deutscher Hotelgast (in meiner Erinnerung sah er aus wie der amerikanische Schauspieler Walton Goggins) in den Pool und hievte mich hinaus. Nach den Sommerferien wurde ich von meinen erschrockenen Eltern in den Schwimmkurs geschickt. Schwimmen war für mich von Anfang an ans Überleben geknüpft. Schwimmen, schreibt die amerikanische Autorin Bonnie Tsui in «Why We Swim», sei eigentlich «ein ständiger Zustand des Nicht-Ertrinkens».

 

Nicht zu ertrinken lernte ich im Hallenbad Klostermatten, kurz Klosterbad, in Brig, damals das einzige Hallenbad in der Gegend und von Nonnen des Klosters St. Ursula geführt. Hier machte ich Krebs, Seepferd, Frosch und andere Abzeichen, trat dem OW88 bei, dem einzigen Oberwalliser Schwimmverein, schwamm erst in der sogenannten Schwimmschule, später mehrmals wöchentlich in der Wettkampfgruppe mit und dann – als mir zwischen 16 und 18 Jahren das Feierabendbier mit Freunden wichtiger wurde als das Training – in der Freizeitgruppe.

 

Der dritte Ort

Lange bevor ich Bier legal trinken durfte, fing ich ausserdem an, selbst Schwimmkurse zu geben. Erst für den Verein, für 5 Franken pro Stunde, später, als ich mich nicht mehr ausbeuten lassen wollte und meine eigenen Preise machte, für mindestens 10 Franken pro Kind. Die Nonnen legten mir, wenn ich als Minderjährige ausserhalb der Öffnungszeiten anderen Minderjährigen das Schwimmen beibringen wollte, den Schlüssel zum Schwimmbad unter die Fussmatte. Wahres Gottvertrauen!

 

Bis ich mit 18 Jahren fürs Studium wegzog, war ich mindestens zwei- oder dreimal die Woche im Klosterbad. «Das Schwimmbad war unser Wohnzimmer», sagt eine alte Schwimmfreundin über diese Zeit, eine der prägendsten meines Lebens. Auch, weil sie so lang war. Über zehn Jahre, so lange habe ich es bisher in keiner Beziehung ausgehalten.

 

Vielleicht ist das Schwimmbad für mich auch deswegen zum sogenannten «dritten Ort» geworden. Nach der Theorie des amerikanischen Soziologen Ray Oldenburg brauchen wir diesen «dritten Ort» neben unserem Zuhause und dem Arbeitsplatz, um anzukommen. Das kann ein Café, Kino, Park, Yoga- oder Nagelstudio sein – alles mögliche Ankerpunkte, wo wir, wenn wir uns dort regelmässig aufhalten, so etwas wie Zugehörigkeit verspüren können. Komme ich an einen neuen Ort, suche ich zuallererst das Schwimmbad. Das ist meine Art, das Familiäre in der Fremde zu finden.

 

Das tat ich in Montpellier, wo ich als Schülerin über den Sommer Französisch lernen sollte; in Cusco, wo ich nach der Matura Freiwilligenarbeit leistete; in Bern, wohin ich zum Studieren zog; in Dublin, wo ich ein Austauschjahr machte; in Wien, wo ich meinen Master abschloss; in Zürich, wo ich im Journalismus anfing; in Berlin, wo ich für die Liebe hinzog. Und in jedem Schwimmbad roch es nach Chlor und schwamm Spucke im Wasser – ich brauche nicht viel zum Glücklichsein.

 

Seit meinem Wegzug aus dem Wallis schwamm ich also immer, aber sporadisch und nie in einem Schwimmverein. Mir war es wichtig, dass etwas Neues anfing, und zwar von null. Im Leben und im Schwimmen. Kein Unter-der-Woche-für- das-Training-oder-die-Probe-ins-Wallis- Fahren. Ich schwamm am Anfang, zum Ankommen, liess mich aber auch schnell vom städtischen Angebot ablenken. Ich war Feuer und Flamme für alles, was ich noch nicht kannte. Bonnie Tsui schreibt dazu in «Why We Swim» sehr passend: «Ich war schon immer eine Schwimmerin, also bin ich auch schon immer eine Suchende gewesen. Schon als Kind hatte ich oft das Gefühl, dass es noch mehr zu sehen gibt und dass mich das Wasser dorthin bringen könnte.»

 

Im Haifischbecken

Als Studentin in Bern wollte ich wissen, was ich ausser Schwimmerin sonst noch alles sein konnte. Im Schwimmbad fühlte ich mich eingeengt, in meiner Identität und auf der Bahn. Während der wenigen Stunden, in denen in Schwimmbädern die Öffentlichkeit und nicht nur Schulen und Vereine zugelassen waren, erinnerte die Situation dort an ein Haifischbecken. Eat or be eaten. Hit or be hit. Regelmässig schlug mir ein ausgestreckter Arm ins Gesicht oder ein Bein in die Rippe. Wenn Dichtestress, dann im Schwimmbad zu Stosszeiten.

 

Das war es doch nicht wert, dachte ich. Schliesslich wollte ich im Wasser nicht um meinen Platz kämpfen müssen, das musste ich an der Uni, auf der Arbeit, im Zug schon genug. Ich wollte Ruhe haben, keinen Wettkampf, und ging seltener schwimmen.

 

Auf den Bahnen wird es auch deshalb enger, weil Schwimmbäder in der Schweiz
laut dem Bundesamt für Sport inzwischen «ihre technische Lebensdauer» erreicht haben und entweder saniert oder geschlossen werden müssen. Auch das Klosterbad schloss, drei Jahre nachdem ich aus Brig weggezogen war. Infrastruktur zu alt, Sanierung zu teuer. Heute ist es eine Doppelturnhalle.

 

Zurück im Mutterleib

Im Dezember trat ich in Berlin nach fünfzehn Jahren wieder in einen Schwimmverein ein, den SC Humboldt-Universität Berlin. Das hatte mit dem Dichtestress, aber auch damit zu tun, dass ich es satthatte, die städtischen Schwimmbäder nur von 6 Uhr 30 bis 8 Uhr morgens nutzen zu können, bevor bis 22 Uhr die Schulen und die Schwimmvereine drin waren (Ausnahme: Am Tag der Deutschen Einheit – haha – dürfen von 8 bis 15 Uhr alle rein!) Ausserdem wollte ich mehr Struktur in meiner Woche.

 

Wie viele Erinnerungen diese Entscheidung an die Oberfläche bringen würde, hatte ich nicht geahnt. Allein, dass ich jetzt wieder einen Trainer hatte, der sich dafür interessierte, welchen Platz ich in meiner Alterskategorie gemacht hatte, und ein so grosses Vereins-T-Shirt trug, dass man sich nicht sicher sein konnte, ob er darunter eine Badehose trug, war mir wohlbekannt.

 

Immer gleich war auch ich ausgerüstet, mit demselben schwarzen Badeanzug mit Reissverschluss am Rücken und derselben schwedischen Schwimmbrille, die ohne Schaumstoff auskommt und an eine Solariumbrille erinnert. Beides vom Schwimmartikelhersteller Speedo. Als Jugendliche war es mir wichtig, wenigstens den Anschein zu erwecken, als träte ich demnächst an einer Weltmeisterschaft und nicht nur an einer Walliser Meisterschaft (beides mit «WM» abgekürzt) an, also dass ich schneller aussah, als ich eigentlich war. Und Speedo trug das Versprechen von Schnelligkeit nun einmal im Namen.

 

Auch meine Pull-Buoy, ein Schwimmbrett für zwischen die Oberschenkel, auf das meine Mutter vor mehr als zwanzig Jahren mit Filzstift meinen Vor- und Nachnamen geschrieben und eine Blume gemalt hat, war noch die alte.

 

In meinen Zwanzigern wollte ich alles Altbekannte aufreissen wie eine Strasse. Heute, in meinen Dreissigern, ist das Altbekannte mir Anker und Auftrieb zugleich. Die kanadische Künstlerin und ehemalige Leistungsschwimmerin Leanne Shapton schreibt in «Swimming Studies», wenn sie jetzt ins Wasser steige, sei es, als striche sie über eine Narbe. Früher schämte ich mich, dass diese Narbe überhaupt da war. Sie stand dafür, dass ich hinterherhinkte. Als einziger Verein im Kanton trainierten wir im Winter in einem 25-Meter-Becken, was wir an Wettkämpfen merkten: Während uns auf halber Strecke im 50-Meter-Becken der Schnauf ausging, zog die Konkurrenz an uns vorbei.

 

Nun freue ich mich, dass ich in einer gentrifizierten Grossstadt, in der es vor allem wichtig ist, wie man aussieht, wo man isst und wen man kennt, über ein ursprüngliches Ich verfüge. In «Waterlog» vergleicht der britische Autor und Freischwimmer Roger Deakin Schwimmen mit Im-Mutterleib-Sein. Was gibt es Ursprünglicheres als das?

 

In Berlin überleben

Im Schwimmbad erinnere ich mich daran, wer ich bin: Schwimme ich Rücken, sehe ich mich vor Wettkämpfen meine Züge von den Schwimmflaggen bis zum Beckenrand zählen. Habe ich einen Krampf, schmunzle ich, weil ich bei meinem ersten Krampf meinte, mir sei der Zeh abgefallen. Ziehe ich unter der Dusche meinen Badeanzug aus, erinnere ich mich, wie schockiert ich war, als ich das bei Berner Schwimmerinnen zum ersten Mal beobachtet habe (im Klosterbad gab es nur einen Duschbereich für beide Geschlechter, und da zog sich, zur Freude der Nonnen, natürlich niemand nackt aus). Stehe ich unter dem Föhn, möchte ich wie früher meine nassen Haare in einer Abfolge von Headbangs ausschütteln.

 

Im Schwimmbad erinnere ich mich aber auch daran, wie weit ich gekommen bin: Vom Becken aus sehe ich nun nicht mehr die braun-weiss gefleckten Walliser Kühe, die im Sommer immer vom Feld durchs Fenster schauten, sondern den Berliner Fernsehturm. Und ich hoffe, dass ich, wenn ich schwimmen (und damit nicht ertrinken) lernen konnte, auch ausreichend Überlebensinstinkt habe, um mich in Berlin über Wasser zu halten. Manchmal bin ich mir da nämlich nicht so sicher. Und dann gehe ich ins Schwimmbad.

 

 

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