Text: Elena Lynch
Medium: Zeit Magazin, 11.4.2024
Miriam Marlene, 29, ist Fotografin und lebt seit zwei Jahren mit ihrem Freund in einer zweigeschossigen Mietwohnung in Berlin-Prenzlauer Berg
Miriam Marlene: „Ich habe zwei Stühle aus einem McDonald’s PlayPlace in meiner Küche stehen. Der eine sieht aus wie aufeinandergestapelte Hamburger und der andere wie ein Geist, der ein gelbes M in den Händen hält. Bei einem Urlaub in Spanien sah ich in einem McDonald’s diese Stühle und dachte: »O Gott, die sind superselten, die muss ich haben!« Die Angestellten reagierten irritiert, sagten, ich könne ihnen nicht einfach das Interieur abkaufen. Wir einigten uns darauf, dass ich pro Stuhl 200 Euro an die McDonald’s Kinderhilfe spende. Mit abgeschraubten Beinen habe ich sie in einen Koffer gepackt und so im Flugzeug nach Deutschland transportiert.
Ich sammle McDonald’s-Memorabilien durchaus ironisch, aber weil ich wegen meiner Mutter als Kind nie zu McDonald’s durfte, steht es vielleicht auch für etwas, das ich jetzt, als Erwachsene, endlich haben darf. Von McDonald’s habe ich auch eine Fahne, einen Kulturbeutel, eine Analogkamera und viele kleine »Happy Meal«- Spielzeuge, wie zum Beispiel einen Schlüsselanhänger, der zugleich ein Radio ist und Lieder des britischen R&B-Sängers Lemar spielt. Den habe ich in den Nullerjahren an einem Kindergeburtstag ergattert und schon meinen Neffen und Nichten ausgeliehen. Auch die Analogkamera durften sie schon haben. Sie lieben es, mich zu besuchen. Ein Neffe schlug neulich vor, dass ich doch den Bauch meines riesigen gelben Haribo-Bären, der in meiner Küche steht, mit Gummibärchen füllen solle, dafür sei er ja gedacht. Sein Hintergedanke war natürlich, dass er dann bei jedem Besuch Gummibärchen bei mir vorfindet. Aber das passiert nur zu besonderen Anlässen, zuletzt zu meinem Geburtstag.
Der Bär steht direkt am Küchenfenster, das im Erdgeschoss zur Straße hinausgeht. Manchmal bleiben Kinder beim Vorbeigehen stehen und drücken ihre Hände und Nasen an die Scheibe. Einmal hatte ich in der Küche das Fenster offen und hörte, wie jemand fragte, ob das ein Kindergarten sei. Zu dem Zeitpunkt klebten mit Window Color gemalte Fensterbilder an den Scheiben.
Mich mit solchen spielerischen Sachen zu umgeben, erfüllt mich mit einer kindlichen Sorglosigkeit, die ich mir auch als Erwachsene erhalten möchte. Und es inspiriert mich. Die vielen virtuellen Inhalte aus dem Internet bringen mich bei der Ideenfindung selten weiter, aber wenn ich jetzt zum Beispiel die Kasperle-Handpuppen, die ich auf der Straße gefunden und entlang der Treppe aufgereiht habe, anschaue, dann denke ich direkt: Vielleicht könnte ich ja mal für ein Mode-Shooting eine kleine Kasperlekulisse bauen. Außerdem ergeben sich aus der ausgefallenen Einrichtung Sets für meine Arbeit. Ich liebe es, in Hotels zu fotografieren, und inzwischen kommen die Zimmer daheim mit ihren Tapeten mit Baum-, Pferd-, Karo- und Katzenmustern an diese Art von Atmosphäre gut ran, sodass dort schon einige Shootings stattgefunden haben.“
Sascha Dornhöfer, 53, und Alexandra Rothert, 52, sind Psychologen, Unternehmer, Filmemacher und Kunstsammler. Sie bewohnen zwei Geschosse einer alten Zigarrenfabrik in Berlin-Kreuzberg
Sascha Dornhöfer: „Als wir vor zwölf Jahren angefangen haben, zu Hause Rollschuh zu fahren – denn dort bringen uns keine Kieselsteine zu Fall –, mussten wir noch auf die Nachbarn unter uns Rücksicht nehmen. Seit wir 2016 hierhergezogen sind, haben wir das Problem nicht mehr: Im ersten Stock ist der Wohnbereich und im Erdgeschoss der Hobbyraum, wo wir mit viel Ruhe und Platz unsere Choreografien einstudieren, Videos aufzeichnen und auch mal mitten in der Nacht laut Musik aufdrehen können. Als Nachtmenschen gehen wir nämlich selten vor vier Uhr morgens schlafen.
Weil ich mein Leben lang schon Videospiele spiele, ist das Ziel immer der Highscore. Es würde mich wenig reizen, ein einfaches Puzzle ein zweites Mal zu lösen. Außer ich wäre in Einzelhaft, doch dann würde ich vielleicht versuchen, es auf Zeit zu lösen. Eine Herausforderung muss es geben, sonst hat das Spiel für mich keinen Sinn und macht keinen Spaß.
Das limitierte Puzzle »Crowd #4 (New Haven)« von der US-amerikanischen Künstlerin Alex Prager liegt, seit wir es gelöst haben, wegen seiner warmen Farbtöne in unserer »orangenen Ecke« – in Kombination mit dem gleichfarbigen Kamin, der Box des Hidden-Role-Brettspiels »Secret Hitler« am Boden und dem Wort »Patapum« in einem orangefarbenen Comic-Schriftzug an der Wand. Spiele, die speziell sind oder in unser Farbkonzept passen, stellen wir aus, während wir Standardspiele wie »Scrabble« im Spieleschrank verstauen.
Unsere Wohnung ist ein großes Gesamtkunstwerk: Wir haben Hunderte analoge Spiele, Tausende digitale Games und über 666 Kunstwerke. Obwohl wir uns ganz genau überlegen, wo was stehen soll, ist alles Gebrauchsgegenstand und nichts Ausstellungsobjekt. Kunst wird bei uns nicht vor Feuchtigkeit, Hitze oder Staub geschützt. Aber putzen tun wir trotzdem selbst, aus Angst, die Putzkraft könnte, wie bei Joseph Beuys, im übertragenen Sinne plötzlich die Fettecke wegmachen!
Neulich war zum ersten Mal der Künstler Gregor Hildebrandt bei uns, von dem eine Skulptur auf unserem Balkon thront. Er kam kaum zwei Meter weit. Ständig schaute und spielte er! Mit dem japanischen Tapedeck Nakamichi RX-505, das die Kassette aufrecht rausfährt, dann auf einer Art Drehscheibe um 180 Grad dreht und wieder reinfährt, verbrachte er besonders viel Zeit. Das ist das Wunderbare an unserer Wohnung: Man wird abgelenkt und aufgehalten und vergisst völlig, was man ursprünglich machen wollte.
Neben dem Spiel lieben wir auch den Streich: Beim gemeinsamen Kochen mit einem Freund, der für Wiener Schnitzel die Eier in eine Schale schlagen sollte, warf Alex das eine Ei absichtlich an ihm vorbei. Wie er erschrak! Doch statt beim Aufprall auf dem Boden zu zerschlagen, ist das Ei einfach weitergehüpft. Das Gummi-Ei lagern wir immer noch mit den echten Eiern im Kühlschrank.
Auch die drei künstlichen Kokainlinien des israelischen Künstlers Nir Hod im Bad oder die vier vermeintlich verschimmelten Orangen des spanischen Künstlers Álvaro Urbano auf der Treppe sorgen bei Besuchern immer wieder für Irritation: Ist das echt? Nehmen die Drogen und lassen Früchte faulen? Sie werden es nie erfahren!
Jérôme, 44, und Jasmin, 43, er ist Ingenieur, sie Stadtforscherin. Sie wohnen seit neun Jahren in ihrer zweigeschossigen Dachgeschosswohnung in Berlin- Kreuzberg. Das Paar hat drei Töchter im Alter von zwei bis neun Jahren
Jérôme: Ursprünglich wollten wir eine Rutsche, die außerhalb des Gebäudes vom oberen Stock in den unteren führt, doch der Denkmalschutz war dagegen.
Jasmin: Dann dachten wir an eine Rutsche am äußeren Rand der Wendeltreppe, aber das hätte auf beiden Etagen viel zu viel Platz eingenommen. Dafür war die Wohnung dann doch zu klein.
Jérôme: Wir entschieden uns für eine Feuerwehrstange, hatten uns aber nicht überlegt, wie wir eine sieben Meter lange Stange in die Wohnung kriegen. Der Typ, der sie lieferte, stand dann da und sagte: »Ja, und jetzt?« Mühsam mussten wir sie über das Dach auf die Terrasse transportieren und sie dann von dort durch das offene Fenster Zentimeter für Zentimeter durch das Loch nach unten lassen.
Jasmin: In meiner Heimatstadt gab es einst einen zweistöckigen Schuhladen mit einer Rutsche als Alternative zur Treppe. Als Kind wollte ich immer dahin.
Jérôme: Und ich wünschte mir als Kind eine kleine Geheimtür, durch die ich von einem Zimmer ins andere gelangen könnte. Ich erinnere mich gern an meine Kindheit, vor allem an das Verspielte und Verwunschene darin. Doch natürlich hat sich das, was ich mir damals alles ausgedacht habe, nicht erfüllt, zumal ich in einer Stadtwohnung in Paris aufgewachsen bin. Als ich vor dreizehn Jahren diese Wohnung in Berlin gekauft habe, war es mir wichtig, dass solche Wünsche darin Umsetzung finden. Darum auch der Geheimraum, der sich mittels einer beweglichen Bücherwand schließen lässt. Meine Kinder sollten haben, was ich nicht haben konnte.
Jasmin: Ich denke, der Grund, warum ich daheim kreativer arbeiten kann als im Büro, ist, dass wir unsere Wohnung von Anfang an unkonventionell angegangen sind. Das farbige Fischgrätparkett im unteren Stock sollte zum Beispiel das Licht, das durch das Dachfenster dringt, figurativ erst auf der Treppe und dann im Flur verteilen. Den Boden hatten wir damals in einem Laden der britischen Designerin Stella McCartney in Mailand gesehen.
Jérôme: Richtig rund geht es bei uns, wenn Besuch da ist. Dann legen wir die Feuerwehrstange frei und rutschen hinunter und rennen hoch. Wir laden auch regelmäßig zum Abendessen ein und überlegen uns Aktivitäten für alle.
Jasmin: Wir haben im Wohnzimmer schon eine kleine Tischtennisplatte stehen gehabt und Rundlauf gemacht.
Jérôme: Im Wohnzimmer baue ich mit unseren drei Töchtern auch gern einen Parcours auf, indem ich die Sofaelemente auf den Kopf stelle und einige Holzlatten aus der Trennwand zwischen Eingangs- und Wohnbereich entferne, damit die Kinder dort durchklettern können.
Jasmin: Das machen sie auch ohne Anlass an einem Wochentag nach der Kita.
Jérôme: Genau, wenn die Mama nicht da ist. (Heiterkeit)
«Das Leben, welches wir dort lebten, gibt es nicht mehr»