Text: Elena Lynch
Medium: ZEIT ONLINE, 17.05.2024
Cillian Murphy hat die theoretische Physik sexy gemacht. Das allein wäre eine Auszeichnung wert gewesen, den Oscar bekam er im vergangenen März aber doch für seine Darstellung des Titelhelden in Christopher Nolans Atombombenepos Oppenheimer. Murphy ist nun gefragter denn je in der Filmbranche und führt damit eine Reihe irischer Schauspieler an, die gerade ungeahnte Karrierehochs erleben. Andrew Scott etwa war bis vor Kurzem noch als «hot priest» aus der Serie Fleabag (2019) bekannt, Paul Mescal als sanfter Student und Rugbyspieler aus der ebenso erotisch aufgeladenen TV-Show Normal People (2020). Nun werden beide gefeiert für ihre Darstellung eines Liebespaars im Film All of Us Strangers, während Scott in einer Serie auch den Hochstapler Ripley aufleben lässt. Vergessen sollte man außerdem Barry Keoghan nicht: Als er am Ende der schwarzen Komödie Saltburn nackt durch ein Schloss tanzte, war das eine der Filmszenen des Jahres 2023.
Der Hype um die Schauspieler begann vergangenes Jahr, als das Magazin Elle den «Hot Irish Guy Summer» ausrief, angelehnt an den Hot Girl Summer, der auf die US-Rapperin Megan Thee Stallion zurückgeht. Das Onlineportal Mashable legte mit einem Leitfaden zu den «irischen It- Boys» nach. Jüngst fand man Cillian Murphy auf dem Titel der britischen Ausgabe des Männermagazins GQ und Barry Keoghan auf dem Titel des US-Pendants. Andrew Scott war dort bereits im vergangenen Dezember zu sehen, gekürt zum Man of the Year 2023. Warum erhalten diese Männer so viel Aufmerksamkeit? Und warum geht es dabei auch explizit um ihr Aussehen?
Ein neuer Durchbruch für die irische Filmindustrie und ihre größten Namen begann nicht erst mit Murphys Oppenheimer-Erfolg, sondern bei der Oscarverleihung des Vorjahres. 14 Nominierungen gingen 2023 an irische Personen und Produktionen, allein neun davon an The Banshees of Inisherin von Martin McDonagh. Drei dieser neun Nominierungen wiederum gingen an die Schauspieler Colin Farrell, Brendan Gleeson und Barry Keoghan. Außerdem war Paul Mescal für seine Rolle in Aftersun als bester Hauptdarsteller nominiert.
Ein Steuerparadies für Filmschaffende
Mit seinen Nominierungen stellte The Banshees of Inisherin einen neuen irischen Oscarrekord auf, der 2024 von Poor Things mit elf Nominierungen schon wieder übertroffen wurde – zumindest, wenn man nicht allzu strenge Regeln anwendet. Der Film des griechischen Regisseurs Yorgos Lanthimos ist eine irisch-britisch-US-amerikanische Produktion und gewann letztlich vier Trophäen (The Banshees of Inisherin ging im Vorjahr trotz seiner vielen Nominierungen leer aus). Der Erfolg der Iren steigerte sich also noch einmal, nicht zuletzt, weil Cillian Murphy als erster irischstämmiger Schauspieler einen Oscar erhielt. (Auch der dreimalige Gewinner Daniel Day-Lewis hat irische Wurzeln, wurde aber in London geboren.)
Schon einmal, in den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren, erlebten irische Filme ein ähnliches Hoch. Schauspieler wie Day-Lewis und sein irisch-britischer Kollege Liam Neeson, der unter anderem 1993 in Schindlers Liste auftrat, wurden zu internationalen Stars, Produktionen wie My Left Foot (1989) und The Crying Game (1992) gewannen Oscars. Eine lokale Filmbranche, die mit der heutigen vergleichbar wäre, gab es jedoch noch nicht, wie die Filmwissenschaftlerin Ruth Barton vom Trinity College Dublin sagt. Erst nach den Oscargewinnen der erwähnten Filme habe der damalige Kulturminister Michael D. Higgins das Irish Film Board (heute Screen Ireland) zur Förderung einheimischer Produktionen wieder aufgebaut – nachdem es sein Vorgänger abgeschafft hatte. Heute ist Higgins Präsident von Irland.
Auch das Steuersystem passte Higgins in den Neunzigerjahren an: Internationale Filmstudios, die in Irland drehten oder mit irischen Filmschaffenden zusammenarbeiteten, durften ab sofort einen Teil ihrer Ausgaben von der Steuer absetzen, sofern sie einen ausreichend hohen Betrag ausgaben. (Mit ähnlichen Anreizen lockte die irische Regierung auch Firmen wie Google, Dropbox, Facebook und LinkedIn ins Land. Eine Entscheidung, die in Dublin zu einer der schlimmsten Wohnungskrisen Europas führen sollte.) Im Jahr 2024 erhöhte die Regierung die Steuervergünstigungen für Filmproduktionen bei Ausgaben von bis zu 125 Millionen Euro pro Projekt auf 32 Prozent.
«Für die Entwicklung der irischen Filmindustrie war das ein entscheidender Schritt», sagt Barton. «Viele Filme, die daraufhin in Irland gedreht wurden, waren internationale Produktionen mit großen Budgets.» Nicht nur Einnahmen kommen jedoch durch Filme wie Cocaine Bear, der trotz seines US-Schauplatzes in Irland gedreht wurde, ins Land, sondern auch neue Möglichkeiten für irische Filmschaffende, die zunehmend in internationale Projekte involviert sind und dabei Erfahrungen sammeln, die ihnen lokale Low-Budget-Filme nicht ermöglichen. Das Anreizsystem hat ein neues Netzwerk und neue Expertise geschaffen.
Irische Produktionsfirmen sind inzwischen geübt darin, ausländische Akteurinnen anzuwerben und dadurch an mehr Geld für ihre Filme zu gelangen. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Firma Element Pictures. Mit dem Poor-Things-Regisseur Lanthimos hat sie bis heute fünf Filme verwirklicht. Ein sechster, Kinds of Kindness, ist bereits fertig und feiert dieser Tage Weltpremiere beim Filmfestival in Cannes. Wie schon bei Poor Things spielen die US-Darsteller Emma Stone und Willem Dafoe darin tragende Rollen. Ed Guiney, Gründer von Elements Pictures, sagte der Irish Times: «Wir sind alle Kinder der irischen Filmförderung. Die meisten anderen europäischen Länder finanzieren Filme schon viel länger. Aber wir haben aufgeholt und in den letzten fünf bis zehn Jahren die Früchte dieser Arbeit geerntet.»
Mit Geld allein lässt sich der derzeitige Erfolg der irischen Filmindustrie jedoch nicht erklären – selbst dann nicht, wenn man ein weiteres Pilotprojekt bedenkt, das seit 2022 etwa 2.000 irische Künstlerinnen und Künstler mit einem Grundeinkommen von 325 Euro pro Woche ausstattet. Ähnlich wichtig ist der Einfluss der irischen Diaspora. «Gerade in Los Angeles», sagt die Filmwissenschaftlerin Barton, gebe es eine große irisch-US-amerikanische Lobby, die sich bei Dinners und Events für irische Filme und Filmschaffende einsetze. Auf diese Weise schaffte es etwa das Coming-of-Age-Drama The Quiet Girl im Jahr 2023 zum ersten irischsprachigen Film, der als beste internationale Produktion für einen Oscar nominiert wurde. (Den Award gewann Im Westen nichts Neues.)
Kollegialität über Konkurrenz
The Quiet Girl profitierte von dem 2017 in Dublin gestarteten Programm Cine4, das im Gegensatz zu den bisher erwähnten Initiativen explizit irischsprachiges Filmschaffen fördert. Unverblümt strebt das Programm einen Oscar an, weshalb der Film von Regisseur und Drehbuchautor Colm Bairéad auch durch eine große Marketingkampagne unterstützt wurde. Nicht nur Plakate und Pressetermine gehörten zu dieser Kampagne, sondern auch das Wirken der irischen Diaspora in Hollywood. Schauspielerinnen und Schauspieler wie Pierce Brosnan (James Bond), Kerry Condon (The Banshees of Inisherin) und Chris O’Dowd (Bridesmaids) machten sich für The Quiet Girl stark.
Die irischen Regisseure und Autoren John Michael und Martin McDonagh leben zwar in London, fühlen sich ihrem Herkunftsland aber weiterhin verbunden. Immer wieder spielen die Filme der Brüder in Irland, behandeln irische Themen und zeigen irische Schauspielerinnen und Schauspieler wie Gleeson, Keoghan oder Farrell. Martin McDonaghs bereits erwähnte Tragikomödie The Banshees of Inisherin ist das jüngste und aktuell bekannteste Beispiel dafür: Der Film wurde an mehreren irischen Schauplätzen auf Englisch (mit für internationales Publikum herausforderndem irischem Akzent) gedreht und spielt im Jahr 1923 vor dem Hintergrund des irischen Bürgerkriegs. Mit The Quiet Girl hat er nichts gemeinsam – abgesehen von Netzwerk und Fürsprechern.
Teil dieses Netzwerks scheint inzwischen auch der Oscargewinner Murphy zu sein. Schon während der Dreharbeiten zu Oppenheimer hatte er sein nächstes Projekt im Kopf: die Verfilmung des Romans Small Things Like These von der irischen Autorin Claire Keegan. Der belgische Regisseur Tim Mielants verwirklichte das Drama über die Misshandlung junger Frauen in irischen Klöstern in den Achtzigerjahren schließlich mit Murphy in der Hauptrolle – bei der diesjährigen Berlinale feierte Small Things Like These als Eröffnungsfilm Weltpremiere. Zu den Produzenten des stillen Films gehört Matt Damon – angeblich angeworben von Murphy am Oppenheimer-Set.
«Irland ist ein kleines Land», sagt die Filmwissenschaftlerin Barton, «alle kennen einander, sodass eine Art Clansystem entstanden ist. Barry Keoghan zum Beispiel, der in sehr schwierigen Verhältnissen aufgewachsen ist und deshalb anfangs nicht das nötige Netzwerk hatte, um als Schauspieler Fuß zu fassen, hat viel Unterstützung von seinen irischen Kollegen bekommen.» Die Rolle des Dorfjungen Dominic in The Banshees of Inisherin soll Martin McDonagh explizit für Keoghan geschrieben haben. Schon vorher spielte der Darsteller mehrfach an der Seite von Gleeson, Murphy und Farrell, der vor einem Jahr zum US-Branchendienst Variety sagte: «Was die Iren gut können, ist, sich gegenseitig zu helfen. Es gibt ein Gefühl der Bürgerpflicht, füreinander da zu sein.»
Ein neues irisches Selbstverständnis
Der Journalist Patrick Freyne glaubt, dass nicht nur das Miteinander irischer Autoren und Schauspielerinnen ungewöhnlich ist, sondern sich auch das Verhältnis Irlands zur Welt in den letzten Jahren verändert hat. Als er noch jünger war, schrieb er im Februar in einem Artikel für die Irish Times, habe sich Irland im Vergleich zu Großbritannien oder den USA wie kulturelles Hinterland angefühlt. Inzwischen hätten die Irinnen und Iren ein neues Selbstverständnis entwickelt. Und was vielleicht noch wichtiger sei: Auch die Welt blicke inzwischen anders auf Irland.
Jahrhundertelang galt Irland als Insel am Rand von Europa, die ihren Bewohnerinnen und Bewohnern wirtschaftlich so wenig zu bieten hatte, dass diese auswandern mussten. Inzwischen ist Irland das am stärksten globalisierte Land in Europa (vor allem, weil es sich nach dem Crash 2008 als Steuerparadies für internationale Konzerne wie Facebook und Google positioniert hat). Auch gesellschaftspolitisch hat das Land aufgeholt und etwa mit der katholischen Kirche abgerechnet. 2015 legalisierte Irland als erster Staat die gleichgeschlechtliche Ehe durch eine Volksabstimmung, 2017 machte es zum ersten Mal einen homosexuellen Politiker zum Premierminister. 2018 schaffte Irland, wieder durch eine Volksabstimmung, das Abtreibungsverbot ab.
Während sich Großbritannien Richtung Brexit und die USA Richtung Trumpismus entwickelt haben, schlägt Irland also aktuell einen progressiven Kurs ein. Viele Irinnen und Iren erfüllt das mit einem Stolz auf ihre Herkunft, den sie nach außen tragen und auch irische Kultur (darunter auch der irische Akzent, für den man sich nun nicht mehr schämt) noch einmal sichtbarer macht. Dass etwa Cillian Murphy Ire ist, dürfte inzwischen allen Filminteressierten klar sein. Noch 2011 aber wurde er in einem gemeinsamen Interview mit dem britischen Schauspieler Tom Hardy immer wieder als Brite bezeichnet, weshalb Murphy den fragenden Journalisten unablässig unterbrach. «Nein, ich bin irisch. Nein, nein, nein, nicht britisch! Das ist ein großer Unterschied.»
Anfang März nahm Murphy dann den Oscar als bester Hauptdarsteller für seinen Auftritt in Oppenheimer entgegen. In seiner Rede bezeichnete er sich als «stolzen Iren» und bedankte sich auf Irisch mit den Worten «Go raibh maith agat» für die Auszeichnung. Hätte Sandra Hüller auch einen Oscar gewonnen und sich «stolze Deutsche» genannt, wäre der Beigeschmack ein anderer gewesen. Der Nationalstolz vieler irischer Künstlerinnen und Künstler irritiert nicht auf die gleiche Weise, wie es bei vielen anderen Formen von Patriotismus der Fall ist – sicherlich auch, weil Irland als ehemalige britische Kolonie historisch nicht zu den Unterdrückern, sondern den Unterdrückten gehört.
Im Aufzug des postkolonialen Diskurses dürfte Irlands aktueller politischer Kurs besonders für woke Vertreterinnen und Vertreter unter Millennials und der Generation Z vergleichsweise unproblematisch sein: «Irland steht auf der Weltbühne für nichts», sagt Barton, «Wir sind kein Aggressor. Wir sind keine Kolonialmacht. Die Unruhen (in Nordirland – Anm. d. Red.) sind vorbei. Wir leben in einer relativ stabilen Demokratie. Wir haben, anders als Großbritannien und die USA, kein verrücktes Staatsoberhaupt, das sich vor Gericht verantworten muss. Deshalb erscheint das Irischsein aktuell als eher harmlose Form der Identität.»
Sanfte Cops, sichere Männlichkeit
Irland ist aus dem Schatten seiner Vergangenheit herausgetreten, entledigt sich von alten Klischees. So spielen irische Schauspieler inzwischen auch romantische Rollen, nicht mehr nur Priester und Polizisten – und wenn, dann spielen sie diese anders. Wieder denkt man an Andrew Scott und Paul Mescal als Liebespaar in All of Us Strangers, Barton verweist aber auch auf den Schauspieler Chris O’Dowd, der in Bridesmaids (2011) den irischen Polizisten nicht – wie bisher üblich – als rauen und versoffenen Kerl, sondern als sensiblen und humorvollen Mann spielte. Für Barton ein entscheidender Wendepunkt: «Natürlich ändert diese Darstellung nicht alles, aber sie steht symbolisch dafür, wie sehr sich das Bild der Iren im In- und Ausland verändert hat.»
Die New York Times hat im März einen Artikel veröffentlicht, indem es um die «Big Irish Energy» irischer Schauspieler ging – angelehnt an den Ausdruck Big Dick Energy. Der Text listete eine Reihe von Erklärungsversuchen dafür auf, warum derzeit «alle auf ihre Handys sabbern», wenn Cillian Murphy, Andrew Scott, Paul Mescal oder Barry Keoghan in ihren Feeds auftauchen. Natürlich kommen dabei auch Murphys stahlblaue Augen zur Sprache, aber ebenso die vermeintliche Bescheidenheit und Nahbarkeit der irischen Schauspieler.
Auf TikTok findet man ein Video der Daily Mail aus diesem Jahr, in dem Mescal bei der Verleihung der Bafta-Awards darüber spricht, dass er gerade David Beckham und Margot Robbie auf dem roten Teppich gesehen habe: «Was zum Teufel ist hier los? Es ist irre! Es ist Banane! Meine Mutter wird ihren Verstand verlieren!» Der erste Kommentar darunter lautet: Paul hat vergessen, dass er selbst berühmt ist. Die Daily Mail schreibt dazu: «Paul verhält sich literally so, wie auch wir uns auf dem roten Teppich verhalten würden. »
«In Irland gibt es kein Starsystem wie in Hollywood», sagt Barton, «Es wird kein Unterschied gemacht zwischen Prominenten und anderen Personen, was dazu führt, dass sich diese Schauspieler selbst nicht so wichtig nehmen.» Murphy zum Beispiel scheint die Aufregung um seine Person noch nie verstanden zu haben. Im US-amerikanischen Fernsehformat 60 Minutes sagt ein Journalist zu dem Darsteller, dass dieser etwas vermasselt habe. «Sie waren einmal Schauspieler, jetzt sind sie ein Filmstar.» Murphys Antwort auf die Stichelei: «Oh, okay, bin ich das? Ich habe mich stets als Schauspieler gefühlt. Der Begriff Filmstar beschreibt für mich andere, nicht mich selbst.»
Kein irischer Adonis
Auch die vermeintliche Progressivität, welche die irischen Schauspieler auf und abseits der Kinoleinwand repräsentieren, wurde im Artikel der New York Times thematisiert. Diane Negra, eine weitere Filmwissenschaftlerin vom University College Dublin, bezeichnet die erwähnten irischen Schauspieler als «Pin-ups» unserer Zeit: «Wenn man Schwierigkeiten damit hat, in der realen Welt das zu finden, wonach man sich sehnt, neigt man dazu, seinen Blick auf Fantasiefiguren wie diese irischen Schauspieler zu richten und sie zur Projektionsfläche zu machen.» Und wonach sich junge Menschen auf TikTok derzeit zu sehnen scheinen, sind babygirls – ein Slangausdruck und Kosename für Männer, die als süß, sensibel oder verletzlich gelten und in ihrer Männlichkeit zugleich sanft und sicher rüberkommen.
Sylvia Sierra, Professorin für Kommunikations- und Rhetorikstudien an der Syracuse-Universität, erklärte gegenüber dem Magazin Grazia, der Begriff werde verwendet, um positive Eigenschaften eines Mannes, insbesondere seine sanfte Seite, hervorzuheben. Dass die irischen Schauspieler zu internet boyfriends stilisiert werden, könnte man also als Ausdruck der Sehnsucht von jungen Menschen nach einer Männlichkeit deuten, die achtsam, emotional reif, feministisch, loyal, rücksichtsvoll und treu ist. Plötzlich tauchen – quasi am Ende des Regenbogens – diese irischen Männer auf und scheinen alle gewünschten Kriterien zu erfüllen.
In einem Interview mit der britischen Sunday Times sagte Paul Mescal im Januar, er wolle mehr sein als ein «irischer Adonis». Die Männer, die er in Normal People, Aftersun oder All of Us Strangers spielt, sind verletzlich und verunsichert, vielleicht sogar suizidal. Mit diesen Rollen sagte Mescal, wolle er auch Diskussionen über Männlichkeit anregen. Das scheint ihm zu gelingen: Vergleicht man seine Rolle als Connell in Normal People etwa mit der des englischen Schauspielers Leo Woodall in der ähnlich ausgerichteten Netflixserie Zwei an einem Tag, dann steht Connell eher für einen konstruktiveren Umgang mit Gefühlen abseits von Exzess und Gewalt. Denn während sich Dexter in Alkohol und Drogen stürzt, begibt sich Connell in Therapie, wo er in einem emotionalen Monolog seine Verletzungen und Verlorenheit ausdrückt. Er hält nichts zurück, lässt alles raus – und vielleicht ist es eine ähnliche erbarmungslose Emotionalität, die Mescals Schauspiel aktuell auszeichnet und von anderen abhebt. Der US-Schauspieler Jeremy Allen White spricht in The Bear zwar auch in einer Selbsthilfegruppe über seine Gefühle, doch scheint er dabei stets seine Emotionen zu zügeln. So vermittelt er doch den Eindruck, dass Männer auch in ihrem Schmerz stark sein müssen.
Die Sehnsucht nach der beschriebenen Männlichkeit dürfte auch erklären, warum der irische Aufschwung vor allem männliche Schauspieler und nicht im gleichen Maße Schauspielerinnen wie Kerry Condon (The Banshees of Inisherin), Saoirse Ronan (Lady Bird), Nicola Coughlan (Bridgerton), Ruth Negga (Loving), Alison Oliver (Saltburn) oder andere trifft – eine Tatsache übrigens, auf die auch Andrew Scott im irischen Radio hingewiesen hat. Vermeintlich starke Frauen, die emanzipiert und erfolgreich ihr Ding machen, sind in den vergangenen Jahren sichtbarer geworden. Vermeintlich schwache Männer, die sowohl im Leben als auch auf der Leinwand ehrlich mit ihren Emotionen umgehen, sind vergleichen damit ein neues Phänomen. Für den gesellschaftlichen Fortschritt, den derzeit so viele mit Irland assoziieren, wird es weiterhin beides brauchen.