Text: Elena Lynch
Medium: Die Zeit, 37/2023, 31.8.2023
Herr Gaarder, mit Ihrem Roman Sofies Welt haben Sie viele Kinder einer Generation an die Philosophie herangeführt. Den Klimawandel haben Sie darin nicht behandelt. Das bereuen Sie jetzt.
Eigentlich lese ich meine Bücher nach dem Erscheinen nicht mehr. Aber bei Sofies Welt wollte ich wissen, inwiefern ich darin den Klimawandel thematisiert habe. Ich war schockiert, als ich feststellen musste: gar nicht. Wie konnte mir die drängendste philosophische Frage unserer Zeit entgehen?
Und?
Jostein Gaarder: Seit ich 1971 in Oslo mit dem Studium anfing, engagiere ich mich in der grünen Bewegung. Damals ging es vor allem um Artenvielfalt. Die Klimafrage kam erst auf, als der amerikanische Klimaforscher James Hansen 1988 vor der globalen Erwärmung warnte. Das habe ich damals aber nicht mitbekommen. Drei Jahre später erschien Sofies Welt. Dass die Frage nach der Zukunft des Planeten ein wichtiger Aspekt der Philosophie ist, wurde mir erst nach der Veröffentlichung bewusst.
Kompensieren Sie mit Ihrem neuen Buch Ist es nicht ein Wunder, dass es uns gibt? das damalige Versäumnis?
2084 – Noras Welt erschien vor zehn Jahren, da ging es auch schon um den Klimawandel. Beide Bücher entstanden aus einem schlechten Gewissen heraus.
Es ist das erste Mal, dass das «Ich» auch ich bin. Das fühlte sich erst sehr privat an.
Im Jugendroman 2084 – Noras Welt erhält die Protagonistin einen Brief aus der Zukunft, in dem die Welt von morgen beschrieben wird: Der Meeresspiegel ist gestiegen, im Norden grasen Kamele, zahlreiche Arten sind ausgestorben. Das jetzige Buch ist ein Brief an ihre Enkelkinder. Warum diese wiederkehrende Form?
Es ist nicht das erste Mal, dass ich den Brief als Form oder das Ich als Pronomen wähle. Aber es ist das erste Mal, dass das «Ich» auch ich bin. Das fühlte sich erst sehr privat an. Dass ich es an meine Enkelkinder adressiere, war auch ein literarisches Mittel, um dieses Ich auf Distanz zu halten. Adressaten zu haben, fand ich angenehmer, als mich um mich selbst zu kreisen. Aber es ist ein offener Brief, der alle ansprechen soll, nicht nur meine Enkelkinder.
Gerade wenn man junge Menschen anspricht, hilft es, so konkret wie möglich zu sein: «Wie steht es um das Grönlandeis? Wo sind die Ökosysteme zusammengebrochen? Wie ist es mit dem Amazonas weitergegangen?» Indem man sich diese Fragen stellt, befasst man sich indirekt mit ihnen. Dazu wollte ich meine Enkelkinder animieren.
Für meine Enkelkinder will ich in erster Linie ein guter Großvater sein, kein Lehrer.
Sie schreiben: «Wenn wir vergessen, an unsere Nachkommen zu denken, werden die uns nie und nimmer vergessen.» Sorgen Sie sich eher um unsere Klimazukunft, weil Sie Nachkommen haben?
Meine Enkelkinder und ich decken drei Jahrhunderte ab. Ich bin im 20. Jahrhundert geboren und sie werden wohl das 22. Jahrhundert erleben. In der Politik wird immer davon gesprochen, dass wir Verantwortung übernehmen müssen für die nächste Generation, als müsste diese erst noch geboren werden, dabei ist sie ja schon da und sogar mit uns verwandt!
Wie alt sind Ihre Enkelkinder?
Die Jüngsten sind zwei, zehn und zwölf Jahre alt. Und die älteste Enkelin ist 17, der älteste Enkel ist 20. Von dem Buch haben sie erst erfahren, als es erschienen war. Sie haben sich geehrt gefühlt, dass ihr Großvater ein Buch an sie adressiert.
Haben sie das Buch gelesen?
Ja, die zwei ältesten Enkelkinder haben es gelesen. Als ich ihnen das Buch übergeben habe, habe ich betont, dass sie es erst lesen sollen, wenn ihnen danach ist. Und vielleicht nochmals, wenn sie so alt sind wie ich jetzt. Natürlich nur, wenn sie das auch wollen, sie sollen keinen Druck empfinden. Alles, was ich sagen wollte, steht im Buch. Und wenn sie sich darüber mit mir unterhalten möchten, bin ich da. Meinen ältesten Enkel treibt das Thema sehr um, sodass ich oft mit ihm darüber spreche. Wir unterhalten uns auf Augenhöhe. Ihn ernst zu nehmen, ist mir wichtig. Für meine Enkelkinder will ich in erster Linie ein guter Großvater sein, kein Lehrer.
Und wenn ein jüngeres Enkelkind Sie bitten würde, ihm den Klimawandel zu erklären, wie würden Sie das machen?
Ich würde es so einfach wie möglich halten, nämlich: Verbrennen wir Kohle, entsteht Kohlendioxid. Dieses steigt in der Atmosphäre und staut sich dort, sodass es immer wärmer und wärmer wird auf der Welt. Zur Veranschaulichung würde ich vielleicht ein Streichholz anzünden und auf den Rauch verweisen, der dann in die Luft steigt. In meinem Buch vergleiche ich Kohlendioxid mit Kalorien. Wenn man jeden Tag mehr Kalorien zu sich nimmt, als der Körper braucht – das Beispiel im Buch war ein Marzipanbrot – dann fängt man irgendwann an zuzunehmen. Auf dieselbe Weise lagert sich das Kohlendioxid in der Atmosphäre ab. So könnten es vielleicht auch Kleinkinder verstehen.
Die britische Klimapsychologin Caroline Hickman hat 10.000 junge Erwachsene aus zehn Ländern zum Klimawandel befragt. Drei Viertel von ihnen haben Angst vor der Zukunft. Ist das bei Ihren Enkelkindern auch so?
Mein ältester Enkel gehört glücklicherweise nicht zu dieser Kategorie. Ich würde sogar sagen, dass ich diesbezüglich pessimistischer bin als er. Beim Schreiben des Buches habe ich mich gefragt, wie sehr ich meine Skepsis mit den Enkelkindern teilen sollte. Schließlich will ich ihnen Mut machen. Zu sagen, dass alles gut wird, wäre aber auch gelogen und würde die wissenschaftlichen Erkenntnisse verkennen. Darum habe ich mich für die Kategorie zwischen Pessimismus und Optimismus entschieden: die Hoffnung. Aber selbst die setzt voraus, dass wir jetzt in die Gänge kommen. Eigentlich ist es schamlos, zu sagen, dass ich für den Planeten sterben würde, schließlich bin ich 71 und nicht 17.
Sie ermutigen ihre Enkelkinder, sich für ihr Leben hohe Ziele zu setzen. Warum?
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich als Kind gefragt wurde: «Wozu willst du dein Leben nutzen, diese einmalige Chance, auf der Welt zu sein? Möchtest du etwas ganz Besonderes erreichen? Gibt es eine bestimmte Aufgabe, zu deren Lösung du gern beitragen würdest?» Es schien beinahe selbstgerecht, sich hohe Ziele für das eigene Leben zu setzen. Dabei können Ziele auch Handlungen anregen. Und davon profitieren auch andere.
Zu hohe Ziele können einen aber auch unter Druck setzen, vor allem wenn man merkt, dass man da nicht hinkommt. Die Studie von Caroline Hickman zeigt, dass 83 Prozent der Befragten denken, sie hätten sich nicht genug um den Planeten gekümmert und seien gescheitert. Viele fühlen sich hilflos und schuldbewusst.
Ich versuche meinen Enkelkindern zu vermitteln, dass man sich weniger allein fühlt, wenn man sich zusammenschließt mit Menschen, die dasselbe Ziel verfolgen. In meinem Buch benutze ich den Begriff Identität, um zu zeigen, dass ich nicht nur dieser Körper bin, der hier sitzt und mit Ihnen spricht, sondern ich gehöre auch einer Familie an, der norwegischen Gesellschaft, der Menschheit, dem Planeten Erde. Das individuelle «Ich» in das große Ganze einzuordnen, kann beruhigend wirken, weil dann nicht alles von einem selbst abhängt.
Das Individuum an das große Ganze binden – genau das empfehlen Expertinnen, wenn sie gefragt werden, wie man Kindern den Klimawandel und seine Ursachen erklärt.
In dieser Identifikation dürfen sich auch die Erwachsenen üben, nicht nur die Kinder. In meinem Buch betone ich das immer wieder, indem ich zum Beispiel schreibe «Ich bin nicht nur in der Natur, ich bin Natur» oder «Ich bin nicht nur in der Welt, ich bin die Welt». Wenn ich in Norwegen in den Bergen bin und in einer klaren Nacht die Sterne betrachte, denke ich immer, dass das Auge, mit dem ich in den Himmel schaue, das Auge des Universums ist. Allerdings bin ich auch etwas verrückt. Aber im Ernst: Wenn mir jemand sagen würde, dass ich morgen sterben würde, aber die Menschheit und die Artenvielfalt auf dem Planeten unversehrt bleiben würden, dann wäre das für mich in Ordnung.
In Ihrem Alter kein besonders radikaler Gedanke: Sie sind soeben 71 geworden und haben schon einiges erlebt und erreicht – im Gegensatz zu Ihren Enkelkindern.
Das stimmt natürlich. Ich bin Autor geworden und mit meinen Büchern um die ganze Welt gereist. So gesehen ist es fast schamlos, zu sagen, dass ich für den Planeten sterben würde, schließlich bin ich 71 und nicht 17. Der Punkt ist, dass ich durch mein Ableben auch etwas von mir selbst retten würde, weil ich ja zur Welt gehöre und nicht nur für mich selbst stehe.
Ihre Bücher haben Sie immer für junge Erwachsene geschrieben. Warum wollten Sie ausgerechnet denen die Philosophie näherbringen?
Erklärt man jungen Erwachsenen etwas auf eine einfache Art und Weise, dringt man damit auch zu Erwachsenen durch. Ein Bekannter von mir hier in Norwegen entwickelte ein Gletschermuseum und richtete die Ausstellung auf 12-Jährige aus, in der Überzeugung, so auch die Älteren am besten zu erreichen. Das war auch der Ansatz bei Sofies Welt. Hätte ich es nicht für junge Erwachsene geschrieben, hätte ich damit nicht so viele Menschen erreicht.
Die einfache Sprache war Ihr Weg zum Erfolg.
Davon bin ich überzeugt. Die Leute denken, Philosophie ist so akademisch und fühlen sich ausgeschlossen. Und wenn man an die schreckliche Sprache von Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder Immanuel Kant denkt, dann haben sie mit ihren Vorbehalten auch recht. Ich bin der Überzeugung, wenn man einen klaren Gedanken im Kopf hat, kann man den auch klar ausdrücken. Bei Hegel und Kant ist die Sprache so kompliziert, dass ich mich manchmal frage …
. . . ob die überhaupt wussten, was sie sagen wollten?
Gewissermaßen, ja. Manche Menschen drücken sich unnötig umständlich aus. Gerade die größten Gefühle sprechen wir ja meist sehr simpel an: Es tut mir leid, ich liebe dich, du lügst doch. Das sind selten mehr als drei Wörter.
Sie schreiben, dass ihre Generation eines Tages von ihren Nachkommen vor Gericht gestellt wird. Was bereuen Sie im Rückblick besonders?
Für meinen Beruf bin ich sehr viel geflogen, hier ein Auftritt, da eine Lesung. Da ist über die Jahre einiges zusammengekommen. Würde ich mich öffentlich hinstellen und fordern, dass wir alle weniger fliegen sollten, wäre das unglaubwürdig. Ich fühle mich schuldig. Da hilft es auch nichts, wenn ich jetzt ein Hybridauto fahre.
Haben Sie das Buch geschrieben, um sich bei ihren Enkelkindern zu entschuldigen?
Jostein Gaarder: Bevor ich Schriftsteller geworden bin, war ich im Naturschutz aktiv. Und als ich dank meines Bestsellers Sofies Welt berühmt wurde, habe ich zusammen mit meiner Frau den Sophie-Preis gegründet. Zwischen 1998 und 2013 haben wir jedes Jahr 100.000 Dollar an Personen vergeben, die sich für die Umwelt einsetzen. Das Thema beschäftigt mich also nicht erst, seit es trendet. Gleichzeitig ist klar, dass eine einzelne Person den Planeten nicht retten kann. Dafür braucht es Politik. Hier in Norwegen muss man im Supermarkt seit Kurzem bis zu 40 Cent für eine Plastiktüte zahlen – solche staatlichen Regulierungen wirken.
Wenn wir die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten retten wollen, schreiben sie, müssen wir umdenken – mehr für Plastiktüten zu zahlen, ist indes keine neue Idee.
Wir brauchen eine kopernikanische Wende in unserer Art zu denken. Vor Nikolaus Kopernikus dominierte der Glaube, dass die Erde das Zentrum des Universums ist, um das alles kreist. Und heute tun wir so, als drehte sich alles um unsere Gegenwart. Natürlich prägt, was jetzt passiert, was danach kommt. Aber wir müssen die Zeit nach uns ebenso respektieren wie unsere eigene.
Jostein Gaarder
Der norwegische Schriftsteller schreibt Romane mit philosophischem Hintergrund. Weltberühmt wurde er 1991 mit seinem Buch «Sofies Welt», das inzwischen in über 50 Sprachen übersetzt und verfilmt wurde. Seine Zielgruppe sind Kinder und Jugendliche, wobei seine Bücher auch Erwachsene ansprechen. Er hat Philosophie, Theologie und norwegische Literaturwissenschaft studiert und lebt in Oslo. 2004 erhielt er den Willy-Brandt-Preis.