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Barbara Haering, links, die Mutter der Fristenregelung, erhält aus Anlass des Abstimmungserfolgs einen Blumenstrauss zu Beginn der Sommersession 2002 in Bern.   © Lukas Lehmann / Keystone

Die «Marathonläuferin» – wie Barbara Haering den Schweizerinnen das Recht auf Abtreibung brachte

Heute vor zwanzig Jahren durfte in der Schweiz zum ersten Mal legal abgetrieben werden. Im Parlament angestossen hatte die Reform eine sachliche Strategin.

Text: Elena Lynch

Medium: NZZ, 1.10.2022

 

Barbara Haering sammelt, was ihr wichtig ist, um es am Ende des Jahres in ein Album zu kleben: erste Schreibversuche der Tochter, Fotos, Flugtickets, Zeichnungen, Postkarten, Zeitungsartikel, Comics, Todesanzeigen und Belege (ein Büsi von einem Baum zu retten, kostete 1000 Franken).

 

Das macht sie seit 1975, jedes Jahr.

 

Vielleicht sagt diese Angewohnheit am meisten über Barbara Haering aus: dass sie dranbleibt, obwohl es eine aufwendige Aufgabe ist. Und vielleicht erklärt diese auch, warum ausgerechnet Haering es schaffte, Abtreibungen in der Schweiz straffrei zu machen.

 

Am 1. Oktober vor 20 Jahren durfte hierzulande zum ersten Mal abgetrieben werden. Der Weg dorthin war lange: 1993 reichte Haering als SP-Nationalrätin die parlamentarische Initiative ein, 2002 kam diese an der Urne durch. Jetzt sitzt Haering zu Hause, in ihrer Wohnung am Zürichberg, an einem glänzenden Esstisch aus Holz, ein Glas Rosé und die Fotoalben dieser beiden Jahre vor sich.

 

«Die Zeit hat für uns gearbeitet», sagt sie. Selbst der Bundesrat änderte in der Zeit seine Meinung – von dagegen zu dafür. Das Ding war geritzt, als der Ständerat zustimmte. Jene, die dabei waren, sagen: Selten ging ein Geschäft so häufig zwischen den Räten hin und her. Im Zürcher Bahnhofbuffet wurde dann der Kompromiss beschlossen: Abbrüche sollten nur bis zur 12. Woche erlaubt sein.

 

Bis hierhin vergingen acht Jahre. In dieser Zeit erwies sich Haering als sachliche Strategin. Sie wusste, auf wen sie zugehen musste, um eine breite Basis zu schaffen. Sie scheute keine Konflikte, war nicht nachtragend und hielt Wort, wenn etwas entschieden wurde – «und das ist in der Politik nicht selbstverständlich», sagt ein Mitkämpfer.

 

Die Sache brauchte Sorgfalt – und diese brachte Haering mit.

 

Die «Basler Zeitung» bezeichnete sie, einen Tag nach dem Ja an der Urne, als «Marathonläuferin» und bezog sich dabei auf eine Aussage, die sie davor selbst über sich gemacht hatte: «Ein Marathonlauf liegt mir mehr als Schüsse aus der Hüfte.» Auch diesen Artikel hat sie in ein Album geklebt.

 

«Der Funke ist nicht gesprungen»

Haering wurde 1953 in Montreal, Kanada, geboren. Mit ihren Schweizer Eltern sprach sie Deutsch und Französisch. Diese lernten sich in Indien kennen, zogen von dort nach Kanada und dann in die Schweiz. Sie war sechs Jahre alt, als sie das erste Mal in der Schweiz lebte, und neun, als sich ihre Eltern trennten.

 

Sie besuchte das Gymnasium, wo sie sich für die Beziehung zwischen Mensch und Natur zu interessieren begann. So sehr, dass sie an der ETH Umweltwissenschaften und, im Nachdiplom, Raumplanung studierte. Sie promovierte. Es sei alles «straight forward» gewesen, sagt sie. Anglizismen gehören zu ihrem Wortschatz, wie melodischer Heavy Metal zu ihrer Playlist.

 

Haering engagierte sich dort, wo sie war: in der Schule, wo sie als Klassenchefin Kuchen buk und die Maturareise organisierte, an der Universität, in der Stadt und später für die gesamte Schweiz.

 

Sie war 33 Jahre alt, als sie für Ursula Koch den Wahlkampf in Zürich schmiss, durch den diese erstmals SP-Stadträtin wurde. Und 44, als sie Koch, seit fünf Monaten SP-Chefin, als Generalsekretärin verliess, mit der berühmten Begründung: «Der Funke ist nicht gesprungen, und deshalb kann keine gemeinsame Energie fliessen.» Es war ein spannender Job, den sie gerne länger gemacht hätte, sagt sie, aber «es ging nicht» zwischen den zweien, also musste sie gehen. Sie beschreibt dies als eine der grössten beruflichen Niederlagen ihres Lebens.

 

Das Ganze hat, sagt sie, aber «zu etwas Gutem geführt»: Sie profilierte sich in der Friedens-, Sicherheit- und Wissenschaftspolitik, leitete für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die Wahlbeobachtung in den USA, 2004, als Bush gegen Kerry gewann. Sie sah die Welt, übernahm internationale Ämter, baute eine eigene Firma auf.

 

Haering war 37 Jahre alt, als sie in den Nationalrat nachrückte, und 54, als sie ging. Die SP würdigte sie aus Anlass ihres Abgangs als «ausserordentlich profilierte und kompetente Politikerin».

 

«Es ist gut zu gehen, wenn sich danach neue Türen öffnen», sagt sie. Bei ihr blieben die alten Türen offen: Ihren friedens-, sicherheits- und wissenschaftspolitischen Interessen geht sie bis heute nach. Sie ist Präsidentin des Genfer Zentrums für Humanitäre Entminung, Vizepräsidentin des ETH-Rats und Mitglied der internationalen Kommission für vermisste Personen.

 

Als Studentin politisiert

Es wird deutlich: Haering hat ihr Leben nicht «der einen Frauensache gewidmet» – nicht wie Marthe Gosteli für das Frauenstimmrecht oder Anne-Marie Rey für die Fristenregelung. Sie wurde nicht über die Frauenbewegung politisiert, sondern war in der Studentenpolitik und interessierte sich für Umwelt- und Friedenspolitik: Auf ihre erste Demonstration ging sie am 1. Mai 1975 zum Fall von Saigon. Als feministisch sieht sie sich trotzdem, weil sie Wegbereiterin war: Als erste Frau präsidierte sie 1976/1977 den Studierendenverband der ETH und 2006/2007 die Sicherheitskommission des Nationalrats.

 

«Es war das Glück unserer Generation, die Ersten von vielen Nachfolgenden zu sein», sagt sie. Die Position der Pionierin sei in sich schon so «rewarding» gewesen, dass sie sich nie getraut hätte, Ansprüche zu stellen, die darüber hinausgegangen wären. «Ich habe den Stress einfach akzeptiert», sagt sie.

 

Als sie 1990 in den Nationalrat nachrückte, war ihre Tochter drei. Kind-und-Karriere bedeutete viel Arbeit, aber sie hatte Hilfe: Der Vater war «einer der wenigen Männer, die gerne geteilt haben». Und als die Ehe auseinanderging, blieb die Aufteilung gleich und das Verhältnis gut. Ihr neuer Mann, der Historiker Jacques Picard, war ebenso einer. «Zuweilen hatte ich zwei Väter, die geholfen haben», sagt sie. «Auch die Grossmütter waren wichtig.» Jetzt ist sie selbst Grossmutter und schaut wöchentlich zu ihrem Enkel. Sein Foto steht auf einem halbhohen Billy-Bücherregal, das im Esszimmer die Wände säumt und die Auswahl an antiken Möbeln aufmischt.

 

«Dem Säugling stinkt’s langsam»

Bis sie 1993 die Initiative einreichte, war Abtreibung kein Thema, für das sie sich «militant» eingesetzt hätte. «Wenn sich mir aber eine Aufgabe stellt, nehme ich sie an», sagt sie. Die Aufgabe stellte sich, als sie 1991 von der Schweizerischen Vereinigung für die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs (SVSS) zu einem Treffen eingeladen wurde. Zu dem Zeitpunkt war Haering noch nicht lange in Bern. Sie wurde soeben in den Wahlen bestätigt, nachdem sie ein Jahr zuvor in den Nationalrat nachgerückt war. Im Wahlkampfjahr war sie von vielen feministischen Forderungen umgeben. Es war das Jahr des ersten Frauenstreiks.

 

«Es war irgendwie ‹obvious›, dass ich das mache», sagte sie. Zum Treffen seien nur drei Parlamentarierinnen und Parlamentarier erschienen: die Grüne Irène Gardiol, der damalige Freisinnige Luzi Stamm (später SVP) und sie selbst.

 

Respekt vor dem Thema hatte sie nicht. Der kam erst später, zusammen mit der Angst. Als sie ihre Argumentation aufbaute, dachte sie nicht an die Evangelikalen und ihre Sicht auf die Sache, dass das Leben mit der Zeugung beginne. «Diese Art von Auseinandersetzung habe ich nicht antizipiert. Doch sie war sehr dominant», sagt sie. Und sie machte Angst: Die Abtreibungsgegnerinnen und -gegner schrieben ihr Drohbriefe und tauchten an Veranstaltungen auf.

 

In Stansstad drohten sie ihr sogar mit einer Bombe. Als Haering danach mit dem Zug zurück nach Zürich fuhr, telefonierte sie so lange mit ihrem Partner, bis sie sich sicher fühlte. Am zweiten Anlass, in Herisau, hatte sie Glück. Die Veranstaltung fing eine Stunde früher an als sonst. Die Gruppe kam, als das Gespräch gerade beendet worden war. Beim dritten Mal, in Dübendorf, hatten die Evangelikalen, wie bereits die beiden Male zuvor, ein Baby dabei. Als dieses anfing zu weinen, sagte Haering: «Dem Säugling stinkt’s langsam, weil er immer an all diese Anlässe mit mir muss.» Das war 2002, kurz vor der Kampagne.

 

Gutzwiller und Metzler argumentierten auf ihrer Seite

Als sie in den Abstimmungskampf zog, war Haering in einer «ausserordentlich glücklichen Lage», wie sie in der «Arena» sagte: «Ich bin Mutter von einem absoluten Wunschkind, mit einem perfekten Vater, einem liebevollen Partner, einem lässigen Job.»

 

Sie sprach besonnen und bestimmt, schmunzelte sich von Satz zu Satz. Dann hielt sie inne und wurde ernst: «Aber ich weiss auch, dass es Frauen gibt, die in einer anderen Situation sind. Die ungewollt schwanger sind, die in keiner tragfähigen Beziehung oder alleine sind, die zu jung oder arm sind.»

 

Ausgehend davon, argumentierte sie in zwei Richtungen: Erstens: Eine Abtreibung ist ein schwieriger ethischer Entscheid, der nur von der betroffenen Frau getroffen werden kann – also muss es ihr rechtlich erlaubt sein, sich entscheiden zu können. Sie zu kriminalisieren, hält sie nicht davon ab, abzutreiben. Das zeigt die Geschichte. Zweitens: Die nationale Regelung, die seit 1942 eine Abtreibung erlaubt, falls die Gesundheit der Patientin gefährdet ist, weist unannehmbare Ungleichheiten auf: In Genf oder Zürich findet eine Frau einfacher eine Ärztin oder einen Arzt als in Nidwalden oder im Wallis. Je später der Abbruch, desto schwieriger – und unethischer – der Eingriff. Die «Arena» fand zwei Wochen vor der Abstimmung statt.

 

Zu dem Zeitpunkt hatte Haering eine breite Basis hinter sich vereint. Mit ihr in der Sendung argumentierten Felix Gutzwiller, FDP-Nationalrat, und Ruth Metzler, CVP-Bundesrätin, die sich damals gegen ihre Partei und für die Legalisierung der Abtreibung positionierte.

 

Die CVP und die SVP waren gespalten ob der Abtreibungsfrage: Die Delegierten waren für ein Nein, die Frauen für ein Ja. Die Grünen, die FDP und SP traten geschlossen auf. Auch das Volk schien sich einig: Im Frühling ergab eine repräsentative Umfrage des Forschungsinstituts GfS eine Mehrheit für die Fristenregelung.

 

Am Morgen des Abstimmungssonntags wurde Haering von jenem Pfarrer angerufen, der sie konfirmiert hatte. Er sagte: «Barbara, das kommt gut.» Er sollte recht behalten: Am 2. Juni 2002 sprachen sich 72 Prozent für die Fristenregelung aus. Fast alle Kantone waren dafür, nur Appenzell Innerrhoden und das Wallis nicht. Der Wandel hatte hauptsächlich in den katholischen Gebieten stattgefunden: 1977 waren noch alle katholischen Kantone gegen die Abtreibung. 1971 und 1978 verwarf das Volk ähnliche Vorschläge.

 

Keine «furiose Feministin»

Warum ging es diesmal gut? «Ich wurde mit ‹alledem› nicht assoziiert. Vielleicht war das ein Vorteil», sagt sie. Was sie meint: Weil sie nicht als «furiose Feministin» oder «eigensinnige Emanze» gelesen wurde, die Sache aber dennoch ernst nahm, weil sie immer alles ernst nahm, keine Emotionen schürte, sondern schlicht und sachlich argumentierte, kam sie bei den Schweizerinnen und Schweizern gut an.

 

Am Anfang hätten sie durchaus überlegt, einen Aufruf zu starten – so wie in Deutschland mit «Wir haben abgetrieben» oder in Frankreich mit «Manifest der 343». In den Nachbarländern war die Selbstbestimmung als Argument sehr präsent. In der Schweiz wären sie damit aber von der Argumentationslinie abgewichen. «Unsere Strategie erwies sich als die richtige für die Schweiz», sagt sie.

 

Hätten sie gefordert, dass der Schwangerschaftsabbruch nicht über das Strafgesetzbuch geregelt wird, so wie es jetzt die grüne Nationalrätin Léonore Porchet tut, wären sie im Ständerat wohl gescheitert. Sie hätten darüber nachgedacht, sich aber schliesslich für den Kompromiss entschieden: Im Grundsatz sollte Abtreibung verboten und über das Strafgesetzbuch geregelt bleiben, bis zur 12. Woche aber ausnahmsweise erlaubt sein, wenn die betroffene Frau in einer Notlage war. Das Argument der Notlage stimmt für Haering noch heute. «Eine ungewollte Schwangerschaft wird immer eine Notlage bleiben und die Abtreibung somit eine Ausnahme sein», sagt sie.

 

Jetzt den Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch nehmen zu wollen, sei ein klar gesinnungsmoralischer Ansatz, den sie nicht unterschreiben würde. «In der Gesellschaft ist eine Abtreibung nicht kriminell konnotiert. Real gesehen würde es den Frauen also nichts Besseres bringen», sagt sie und hält damit an ihrer schlichten und sachlichen Argumentation fest. Bis zum Schluss. So ist sie eben.

 

Ob sie diesen Artikel auch in ihr Album kleben wird?

 

 

 

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