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Die Statur eines Boxers hat Brian Keller schon. Sein Coach will ihm auch das nötige Maß an Selbstkontrolle vermitteln.   © Florian Kalotay

Auf die harte Tour

Brian Keller war mit 17 plötzlich der bekannteste Gefängnisinsasse der Schweiz: Für die einen ein gefährlicher Gewalttäter, für andere ein Justizopfer. In der Haft wurde er zum Social-Media-Star. Jetzt, mit 28, will er eine Karriere als Boxer starten. Kann das gut gehen?

Text: Elena Lynch

Medium: ZEIT MAGAZIN MANN, 1/2024

 

Brian Keller kommt ins Wohnzimmer seiner Wohnung in Zürich, stellt sich höflich vor, bietet mir sofort das Du an, dann etwas zu trinken. Kurz darauf halte ich einen Vitamindrink namens Berry Mix in der Hand. «Der ist ja süß!», sage ich. Er lacht und antwortet: «Ich bin auch süß!»

 

Das sehen in der Schweiz viele anders. 2013 wurde Brian Keller plötzlich zum bekanntesten Gefängnisinsassen des Landes – damals war er 17 Jahre alt. Und seitdem hat die Berichterstattung über ihn nicht mehr aufgehört.

 

Im November 2023 wurde Keller aus dem Gefängnis entlassen, nachdem er zuletzt – unter intensiver öffentlicher Anteilnahme – siebeneinhalb Jahre inhaftiert gewesen war. Einen Tag nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis postet er ein Video bei Instagram und TikTok, das ihn auf dem Beifahrersitz eines Autos zeigt. Er schaut in die Kamera und fängt an zu freestylen: «Ihr habt mich verrückt gemacht im Bau, heute kann ich niemandem mehr trau’n, trotzdem habe ich immer noch n’ Traum.» Es geht weiter mit Zeilen wie «fangt an zu laufen, denn Brian ist draußen» und «Richter, Hurensohn, ich beantworte keine Fragen, Hass, Kummer und Leid von Vergangenheit».

 

Brian Keller ist einerseits ganz unten – ein entlassener Häftling, der seiner Resozialisierung harrt. Und andererseits ein Prominenter. In den sozialen Medien ist er nicht erst aktiv, seit er auf freiem Fuß ist. Schon im Gefängnis hatte er angefangen, unter dem Namen «brian_nr1» Videos aus seiner Zelle zu posten: In Trainingshose und engem T-Shirt boxte er auf die Handykamera zu oder machte mit nacktem Oberkörper Liegestütze, während im Hintergrund ein Boxkampf im Fernseher lief – eine Reality-Show, die immer mehr Zuschauerinnen und Zuschauer fand. Keller wurde einer der ersten «Knastfluencer» im deutschsprachigen Europa.

 

Jetzt ist er 28 Jahre alt und endlich in Freiheit. Die Resozialisierung könnte beginnen. Aber wie geht das, wenn einen alle als den harten Kerl aus dem Knast kennen? Das möchte ich wissen, und deswegen verabrede ich mich mit Brian Keller zum Interview. Die Anfrage läuft über seinen PR-Berater – wie das eben so ist bei einer Celebrity. Aber wie ist Keller eigentlich so bekannt geworden?

 

Als 15-Jähriger wird er in Zürich wegen schwerer Körperverletzung zunächst zu neun Monaten Haft verurteilt. Er hatte einem anderen Jugendlichen mit dem Messer zweimal in den Rücken gestochen und ihn lebensgefährlich verletzt. Doch weil während dieser Haftstrafe alle Maßnahmen zur Resozialisierung scheitern, schickt ihn die Zürcher Jugendanwaltschaft in ein sogenanntes Sondersetting: In diesem aufwendigen Programm wird er an allen sieben Tagen der Woche in einer eigens für ihn eingerichteten Wohnung rund um die Uhr von einer nur für ihn zuständigen Person sozialpädagogisch betreut; nach einem minutengenauen Zeitplan erhält er Einzelunterricht, macht eine Psychotherapie und trainiert Thaiboxen. Er ist damals einer von zwei Jugendlichen in der Schweiz, die auf diese Weise resozialisiert werden sollen.

 

Und tatsächlich scheint die Sonderbehandlung bei Keller zunächst zu funktionieren. Doch dann strahlt der Sender SRF einen Dokumentarfilm über ihn aus. Die Autoren des Films geben Keller das Pseudonym «Carlos», zur weiteren Anonymisierung machen sie aus seiner Mutter aus Kamerun eine Brasilianerin – sein Vater bleibt im Film, wahrheitsgemäß, Schweizer. Durch den Film wird bekannt, dass das Sondersetting 22.000 Franken im Monat kostet (damals etwa 17.500 Euro). Und sofort greift die Boulevardzeitung Blick den «Fall Carlos» auf:

 

«Sozial-Wahn! Zürcher Jugendanwalt zahlt Messerstecher Privatlehrer, 4½-Zimmer-Wohnung und Thaibox-Kurse. Kosten: 22.000 Fr. pro Monat», schreibt der Blick am 27. August 2013 auf der Titelseite.

 

«Zu brutal für den Knast! Sozial-Wahn um Messerstecher. Darum kriegt Gewalttäter Carlos eine Luxus-Behandlung» lautet die Blick-Schlagzeile einen Tag später.

 

Andere Medien berichten ähnlich, der öffentliche Druck nimmt zu. Am 30. August 2013 nimmt die Zürcher Jugendanwaltschaft Keller aus dem Sondersetting heraus und weist ihn für vier Monate wieder ins Gefängnis ein.

 

Das Interesse der Öffentlichkeit nimmt seither nicht ab, im Gegenteil. In den vergangenen zehn Jahren sind mehr als 3.000 Artikel über ihn erschienen. Der Umgang der Zürcher Justizbehörden mit ihm, aber auch sein eigenes Verhalten liefern immer wieder neuen Stoff. Zwei Jahre nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wird er erneut wegen schwerer Körperverletzung eingewiesen, zunächst für 18 Monate: Keller hatte einem Bekannten den Unterkiefer gebrochen.

 

In dieser Zeit kommt es zwischen Keller und der Justiz zu einem ständigen Kräftemessen: Keller rebelliert gegen die Haftbedingungen, das Gefängnispersonal ist mit ihm überfordert, behandelt ihn härter, isoliert ihn öfter und länger als andere, wogegen sich Keller wiederum wehrt – eine Eskalation, die immer wieder zu Verlängerungen seiner Haftstrafe führt, auf insgesamt 7,5 Jahre. All das wird von den Medien minutiös dokumentiert.

 

Brian Keller, so ist es in den Akten einer sogenannten Administrativuntersuchung nachzulesen, muss im Winter zwei Wochen lang in einer unterkühlten, unmöblierten Zelle auf dem Boden schlafen und dann dreieinhalb Jahre lang in Einzelhaft einsitzen. Die Wende im «Fall Carlos» kommt 2021, als sich Psychiater, Menschenrechtsaktivisten und Juristen in Gutachten, Einschätzungen und Urteilen für ein sofortiges Ende der Einzelhaft einsetzen. Im Januar 2022 hebt das Bundesgericht diese auf.

 

Als Keller sich eine Zelle mit anderen Insassen teilt, geht er online. Seinen ersten Post auf Instagram macht er im April 2022. Er besteht aus drei Fotos: Eins zeigt ihn mit einer Besucherin von einer UN-Arbeitsgruppe, die in ihrem Bericht zum Schluss kommen wird, dass der «Fall Carlos» ein «drastisches Beispiel für strukturellen Rassismus in der Schweiz» sei; zwei Fotos zeigen ihn, mit Handschellen gefesselt, vor einer blauen Gefängnistür, dazu die Bildunterschrift: «Bunker von 17. 8. 2018 bis 20. 1. 2022». Dem ersten Kommentar gibt Keller ein «Like»: «Fast 4 Jahre Bunker? Jeder andere wäre daran zerbrochen. Dein Überlebenswille muss riesig sein.» Von da an beginnt Kellers Karriere als Social-Media-Star. In den sozialen Medien zu posten, ist Häftlingen in der Schweiz zwar nicht untersagt, ein Handy zu haben hingegen schon. Doch kein anderer Gegenstand wird weltweit häufiger in Gefängnisse geschmuggelt als Handys.

 

Und der Instagram-Account «brian_nr1» war sogar schon aktiv, als Keller noch in Einzelhaft saß. 2021 hatte ein Künstlerkollektiv angefangen, Keller im Gefängnis zu besuchen und Briefe von ihm auf Instagram zu posten.

 

Keller war da in der Schweiz schon längst eine Symbolfigur, zu der jeder und jede eine Meinung hat. Für die einen ist er ein gefährlicher Gewaltverbrecher, der besonders sicher verwahrt werden muss; für andere ist er ein Justizopfer, das man retten muss. Und viele dazwischen denken, dass sich «Carlos» einfach endlich mal besser benehmen sollte.

 

Seit seiner Freilassung im November hat er auf Instagram inzwischen mehr als 14.300 Follower, auf TikTok kommen seine Videos regelmäßig auf Hunderttausende Views. Viele wollen wissen, wie sich Keller in der Freiheit bewährt. Manche seiner Aktivitäten in diesen ersten Wochen können sie in seinen Posts mehr oder weniger in Echtzeit mitverfolgen: Als Erstes geht er mit seiner Familie zu Vapiano in Zürich, isst Spaghetti mit Scampi und Spinat. In den darauffolgenden Tagen erfreut er sich an neuen schwarz-silbernen Boxschuhen von Nike, die er in London bestellt hat, macht Selfies mit seiner Nichte, geht zum Barber und zum Boxtraining.

 

Auf den Social-Media-Kanälen verkündet Keller sein Ziel: Boxweltmeister im Schwergewicht zu werden. Mit 28 Jahren ist er zwar schon relativ alt für einen solchen Karrierestart. Aber wagen will er es trotzdem. Dieser Traum, sagen viele, die ihn kennen, gibt ihm eine Richtung, einen Sinn.

 

Vier Wochen nach seiner Haftentlassung stehe ich also vor seinem Haus in Zürich, wo wir zum Interview verabredet sind. Ich klingele, laufe die Treppen hinauf, im obersten Stock streckt Keller seinen Kopf aus der Wohnungstür und einen Teil seines unbekleideten Oberkörpers, lächelnd streckt er mir die Hand entgegen und sagt: «Ich bin noch nicht fertig, sorry.»

 

Ich stehe im Flur der Wohnung, als seine Mutter aus dem Bad kommt – Acrylnägel an den Fingern und einen Besen in der Hand – und mich auf Französisch begrüßt: «Enchanté». Sie wohnt mit Kellers Vater in einer anderen Wohnung im selben Haus. Sie fragt ihren Sohn, ob sie den «poubelle» mit nach unten nehmen solle, den Mülleimer. Vor seinem Boxtraining, sagt sie zu mir, müsse Brian noch essen. Sie zeigt auf einen Teller auf dem Herd: ein Stück Fleisch mit einem Berg Broccoli, Karotten und Paprika.

 

Keller lässt sich Zeit, geht mehrmals zwischen Schlaf- und Badezimmer hin und her, ich höre ihn im Bad Nägel knipsen und betrachte beim Warten sein Bücherregal: Werke von Niccolo Machiavelli, Marc Aurel, Ferdinand von Schirach, Toni Morrison, Leo Tolstoi, Nelson Mandela, dazu Boxerbiografien und das Schweizer Strafgesetzbuch. Aus den Berichten über ihn weiß ich, dass er im Gefängnis viele Bücher gelesen hat. Nun setzt er sich mit seinem Teller an den Tisch im Wohnzimmer und isst, während unsere Unterhaltung beginnt. Er fragt mich, welche der Bücher in seinem Regal ich schon gelesen habe. Und ich frage ihn, was es mit dem Buch Erste portugiesische Lesestücke auf sich habe. Eine ältere Frau habe ihm das geschenkt, sagt er, «im Gefängnis habe ich mich über jedes Geschenk gefreut». Da seine Mutter – dem SRF-Dokumentarfilm über ihn zufolge – ja angeblich Brasilianerin war, glaubten viele, dass «Carlos» am besten Portugiesisch verstehe.

 

«Immerhin sind diese Lesestücke hier auch in deutscher Übersetzung drin», sagt er. «Leider sind sie nicht so gut.» Er liest ein Stück namens Die Uhr vor: «Wo hast du diese Uhr gefunden?» – «Die habe ich bei einem Wettlauf gewonnen.» – «Gegen wen?» – «Gegen den Besitzer und zwei Polizisten.»

 

Keller urteilt: «Das finde ich weder witzig noch weise.» Er hinterfragt alles. Im Gefängnis las er die Bibel («Man hat ja viel Zeit zur Verfügung») und konnte sich nicht vorstellen, dass Gott gleichzeitig der Vater, der Sohn und der Heilige Geist sein sollte. Als ihm ein Pfarrer sagte, dass er kein Christ sein könne, wenn er nicht an die Dreifaltigkeit glaube, konvertierte er zum Islam. «Da wird Gott wenigstens nicht so vermenschlicht», sagt er.

 

Keller spricht mit einer sanften Stimme, die mit seiner Statur kontrastiert: 1,86 Meter groß, massive Muskeln, sein schwarzes T-Shirt spannt an Brust und Oberarmen. Wie wurde dieser Mensch erst zum Gewalttäter, dann zur Berühmtheit? Und wer ist er jetzt?

 

Brian Henry Keller wird 1995 in Paris geboren, wo er die ersten drei Lebensjahre mit seiner Mutter und seinen zwei Halbgeschwistern aufwächst. Sein Vater arbeitet als Architekt, pendelt zwischen Paris und Zürich, bis er sich die zwei Wohnsitze nicht mehr leisten kann und die Familie 1999 zu sich nach Zürich holt.

 

Brian ist ein hyperaktives Kind und allen zu anstrengend, auch seinen Eltern, die von eigenen Problemen eingenommen sind: Die Mutter fühlt sich in Zürich fremd, auch wegen der Sprache. Der Vater ist beruflich sehr beschäftigt und kann sich nicht ausreichend um seine entwurzelte Familie kümmern. Die Eltern streiten sich oft. Das Onlinemagazin Republik, das Kellers Kindheit in der Serie Am Limit aufwendig aufgearbeitet hat, zitiert dort psychiatrische Gutachten, in denen von «unhaltbaren, chaotischen Zuständen in der Familie» die Rede ist und von einer «strukturellen und emotionalen Verwahrlosung des Kindes».

 

Ab der Grundschule wird Keller von einer Institution zur anderen gereicht – Kinderheime, Psychiatrien, Pflegefamilien in Deutschland und Italien, Zirkusschulen – und erhält trotzdem kaum Schulunterricht. Heute, mit 28, hat er das Schriftbild eines Drittklässlers.

 

Dafür wird er früh straffällig. Im Alter von 10 bis 15 begeht er schon über 30 Delikte, für die er schuldig gesprochen wird – in der Schweiz beginnt die Strafmündigkeit bereits im Alter von 10 Jahren –, darunter ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, weil er mit Marihuana erwischt wird, Sachbeschädigung, Schwarzfahren, Hausfriedensbruch, er muss Bußgelder zahlen und Sozialstunden leisten. Mit 15 folgt dann der Messerangriff – und danach seine lange Gefängnislaufbahn.

 

In den ersten Monaten in Haft versucht Keller zweimal, sich das Leben zu nehmen. «Ich empfand mich als Last für meine Familie, ich schämte mich, dass ich ihnen so viel Schmerz und Schwierigkeiten bereitet hatte, und dachte, dass sie ohne mich besser dran wären», sagt er. Wegen seiner Suizidversuche wird er in die Psychiatrie eingeliefert, wo er 13 Tage lang ans Bett fixiert und mit sehr starken Medikamenten sediert wird. Keller weigert sich seither, sich therapieren zu lassen oder Medikamente zu nehmen.

 

Wie findet er es eigentlich, dass ihn viele immer noch Carlos nennen? «Ich hasse das», sagt Keller, «Carlos hier, Carlos da, sogar auf der Straße wurde ich als Carlos angesprochen, das regte mich auf, so heiße ich nicht! Sie sollen mich Brian Keller nennen.» Ist für ihn der Unterschied zwischen Carlos und Brian der Unterschied zwischen dem «Monster» und dem Menschen? «Wie die anderen mich sehen wollen, ob als Monster oder als Menschen, ist ihnen überlassen. Aber wenn sie mich hassen, dann hassen sie wenigstens mich. Und wenn sie mich mögen, dann mögen sie wenigstens mich, Brian Keller.»

 

In seinen Augen haben die Medien und die Justiz aus ihm ein Monster gemacht. Doch inzwischen hat er sich diese Bezeichnung zu eigen gemacht: In seiner Bio auf Instagram steht dieses Wort neben «Family», «Warrior», «Zürich». Früher schon, sagt er, habe er sich in Filmen wie Scarface, Der Pate, Goodfellas immer mit den Mafiosi identifiziert: «Der Lebensstil der Bösen schien mir interessanter als der der Guten. Ich wollte so sein wie sie.»

 

Auf Social Media, sagt er, könne er endlich für sich selbst sprechen, nachdem jahrelang über ihn gesprochen worden war. Seit Keller im November aus der Haft entlassen wurde, trat er in der Schweiz in einer Talkshow bei TeleZüri auf, in einem Podcast von Radio Energy und einem Videoformat von watson. Zuletzt war er auf YouTube in der Serie Besuchszeit zu sehen, einer deutschen Interviewserie mit Ex-Häftlingen. Das einstündige Video erhielt über 100.000 Views. Geplant sind nun auch ein Buch und ein Dokumentarfilm über ihn.

 

Am Esstisch in seiner Wohnung hat er inzwischen das Stück Fleisch und den Gemüseberg aufgegessen und beginnt, die Sachen für sein Boxtraining zu packen. Wir gehen viel zu spät los – offenbar hat Keller es noch nie pünktlich zum Training geschafft. Der Trainer sagt später, dass ihn das nicht störe.

 

Die nächste S-Bahn kommt erst in 15 Minuten, wir setzen uns auf eine Bank auf dem Bahnsteig. Ein Jugendlicher kommt auf uns zu, begrüßt Keller mit «Brooo!». Ihr eingespielt wirkender Handschlag lässt vermuten, dass die beiden sich kennen, doch dann bittet der Jugendliche Keller um ein Selfie, er sagt, es sei «für meine Bros, die mir das sonst nicht glauben würden». Er ist ein Fan.

 

Glaubt Brian Keller, ein Vorbild sein zu müssen? «Nein», sagt er, «ich will eine gewisse Schicht in Zürich repräsentieren, mehr nicht. Die armen Jungs, die daheim Probleme haben und auf der Straße abhängen, die sind wie ich damals. Für sie will ich stehen.»

 

Es kommt ein anderer junger Mann auf Keller zu, nennt ihn «Habibi», was auf Arabisch so viel wie «mein Lieber, mein Freund» heißt. Die beiden kennen sich aus dem Knast, elf Jahre lang saß der andere. Seit anderthalb Wochen ist er Vater einer Tochter. Keller fragt ihn, ob er sich an der Erziehung beteilige. «Klar, Bro, klar, mein Name ist verschmutzt, ich muss alles wiedergutmachen.» Zum Abschied drückt er Kellers Kopf an seine Brust und sagt: «Ich habe dich vermisst, Bro.»

 

Warum er den anderen das gefragt habe? Keller lacht und sagt: «Im Knast machen alle auf Macho, da konnte ich mir das einfach nicht vorstellen. Die Tochter im Arm halten, das kann jeder, aber die anderen Sachen?» Ob er selbst denn Windeln wechseln würde, wenn er einmal Vater werden sollte? «Ich hoffe es, aber natürlich stinkt es total, ich kenne das von meinem Neffen. Da musste ich fast kotzen, als meine Schwester ihm die Windeln gewechselt hat.» Und was würde später mal er seinen Kindern auf den Weg geben, wenn er welche hätte? «Man muss seinen Kindern klarmachen, dass man sie liebt, aber auch, dass man kämpfen muss in dieser Welt. Das Leben ist ein einziger Kampf.»

 

Als ich mich in unseren Gesprächen wiederholt auf Informationen beziehe, die aus seinen Instagram-Posts stammen, zum Beispiel die Tatsache, dass er in der vorangegangenen Nacht nicht schlafen konnte und Boxkämpfe schaute, fragt er mich, ob er online zu viel von sich preisgebe? Doch die Aufmerksamkeit ist sein Balsam und sein Kapital. Inzwischen sind auf seinen Social-Media-Kanälen hauptsächlich Selfies und Boxvideos zu sehen.

 

Während Keller im Boxclub mit dem Springseil trainiert, erzählt sein Trainer, dass er aus einer New Yorker Boxerfamilie komme und schon Promis wie 50 Cent trainiert habe, aber auch den zweifachen Schwergewichtsweltmeister Anthony Joshua. Und jetzt Keller, pro bono. Was der Trainer Keller vermitteln will, erklärt er in einprägsamen Sätzen, zum Beispiel: «Müdigkeit lässt jeden Menschen bescheiden werden.»

 

Diese Bescheidenheitslektion, sagt er, habe Keller noch nicht verstanden. «Ich muss einen Sparringspartner finden, der ihn verletzen kann», sagt der Coach, «damit er versteht: Er ist nicht Superman. Und dann werde ich auch herausfinden, wie er reagiert, wenn er geschlagen wird. Bleibt er ruhig, oder wird er emotional?»

 

Wie reagiert Keller, wenn er geschlagen wird? Das interessiert viele. Als er im November aus der Haft entlassen wurde, wartete eine Traube von Journalisten auf ihn. «Was sagst du den Menschen, die befürchten, dass du rückfällig werden könntest?», fragt jemand. «Sie müssen nichts befürchten», antwortet Keller. «Jeder, der mich respektiert, den respektiere ich auch.»

 

Im Januar 2024, einen Monat nach unserem Treffen in Zürich, zückt Keller in einem WhatsApp-Videochat mit einem ehemaligen Gefängniskollegen (auch er ein «Knastfluencer», wenn auch mit deutlich geringerer Reichweite) ein Messer. Er droht: «Weißt du wie viele Menschen ich schon gestochen habe? Sag mir, wo du bist» und: «Du willst keinen umbringen, ich schon.» Wenig später droht er ihm auf TikTok: «Brian ist King, Brian ist ein Monster im Herz. Brian will dein Blut!» Bald folgt seine Stellungnahme auf Instagram: «Alles nur Show», erklärt er, das sei Promotion für einen Boxkampf gewesen, «mit Gewalt habe ich nichts zu tun.» Die Medien berichten natürlich trotzdem wieder ausgiebig, die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen des öffentlichen Gewaltaufrufs, TikTok sperrt seinen Account. Inzwischen hat er einen neuen.

 

Als ich Keller nach dem schönsten Moment seines Lebens gefragt habe, antwortete er: «Ich glaube, der kommt erst noch.» Er habe viele Erinnerungen, aber nur wenige schöne. «Wenn ich Vater oder Boxweltmeister werden würde, dann könnte ich definitiv sagen: Das war der schönste Tag meines Lebens.» Bis dahin wird es noch viele Posts geben.

 

 

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