
Text: Elena Lynch
Medium: REPUBLIK, 14. Juni 2025
Baek Ga-eul sitzt beim Coiffeur, um ihre Schultern liegt ein schwarzer Umhang, auf dem eine blauäugige Frau mit langen blonden Haaren abgebildet ist – ein Schönheitsideal, das sie als Feministin hinter sich gelassen hat. Der Coiffeursalon heisst «Making Men», sie ist die einzige weibliche Stammkundin. Seit sieben Jahren trägt sie ihre Haare kurz.
Früher sah die 33-Jährige aus wie ein K-Pop-Idol, hatte lange Haare, benutzte auffälliges Make-up, trug kurze Röcke, besass 300 Strumpfhosen. Im Zuge ihres feministischen Erwachens zerstörte sie ihr Make-up, sie zerschnitt ihre Röcke, zerriss ihre Strumpfhosen und postete Fotos davon auf Social Media, Hashtag #escapethecorset.
Das erste Mal schnitt sie sich die Haare 2018 kurz, auf einem Protestmarsch, den sie mitorganisiert hatte. Sie sagt: «Sich die Haare zu schneiden oder zu scheren, gilt in Korea seit jeher als Akt des Widerstands.» Südkoreanerinnen tragen hauptsächlich dann kurze Haare, wenn sie Autoritätspersonen sind – Lehrerinnen oder Polizistinnen etwa. Oder eben Feministinnen. Mit dem Griff zur Schere lehnte Baek sich auf gegen das illegale Filmen von Frauen an öffentlichen Orten. Zehntausende demonstrierten damals unter dem Slogan «Mein Leben ist nicht dein Porno», es waren die grössten feministischen Kundgebungen, die es in Südkorea je gegeben hatte. Ihr Protest richtete sich gegen die klitzekleinen Kameras, die Männer in Südkorea heimlich in öffentlichen Toiletten, Umkleiden und Hotelzimmern installieren, um Frauen zu filmen. Das Verbrechen wurde unter dem Namen «Molka» bekannt – für mole camera, Maulwur amera – und ist in Südkorea so verbreitet, dass es jedes Jahr Tausende von Strafanzeigen deswegen gibt.
Digitale Sexualstraftaten zählten in Südkorea vor knapp zehn Jahren zu den Auslösern einer breiten, o verdeckten feministischen Bewegung: 4B entstand erst als Slogan und verfestigte sich zu einer Lebensweise, die auf vier Grundprinzipen basiert. In der koreanischen Sprache beginnen sie allesamt mit der Silbe bi, was so viel wie «nicht» bedeutet: keine Dates (biyeonae), kein Sex (bisekseu), keine Ehe (bihon), keine Kinder (bichulsan) mit Männern.
Ein wichtiger Grund: 2016 lag die Geburtenrate in Südkorea bei 1,2 Kindern pro Frau, ein Problem für die demografische Entwicklung. Um dies zu illustrieren, veröffentlichte die Regierung eine interaktive Geburtenkarte, auf der alle Frauen im fruchtbaren Alter im Land verzeichnet waren. Die Feministinnen konnten es nicht fassen, skandierten auf den Strassen «Wir weigern uns, fruchtbar zu sein!» und riefen zu einem reproduktiven Boykott auf. Sie befanden: Der sicherste Weg, eine Schwangerschaft zu vermeiden, sei, Männern gegenüber auf Distanz zu bleiben.
Wie viele Frauen sich heute zu 4B zugehörig fühlen, ist schwer zu erfassen. Schätzungen geben Zahlen zwischen 5000 und 50’000 an. 2024 lag die Geburtenrate in Südkorea bei 0,75 Kindern pro Frau, dem weltweit niedrigsten Wert.
Der Verzicht der Südkoreanerinnen auf Ehe, Kinder, Sex und Dating ist als «gelebte Kritik» am aktuellen Südkorea zu verstehen. Einem Land, in dem Frauen zwar studieren und arbeiten können, aber nicht an ihrer sozialen Rolle als Ehefrau und Mutter rütteln dürfen. Einem Land, das konfuzianische Dogmen wie Hierarchie und Harmonie hochhält und in dem Männer zuoberst stehen. Einem Land, in dem Frauen eben ständig damit rechnen müssen, auf der Toilette heimlich von einer spy cam gefilmt zu werden. Oder als Deepfake-Porno im Internet zu landen.
Doch ist es der richtige Weg, sich so strikt von Männern abzuwenden? Ist es wirksam? Vier Frauen erzählen für diesen Beitrag, warum sie 4B praktizieren: Baek Ga-eul, Kim Jin-ah, Lee Ye-eun und This_Blackberry2469, die nur ihren Reddit-Namen nennen will.
Schutz vor digitalen Übergriffen
Der Coiffeursalon «Making Men» befindet sich in der Seoul National University, dem «Harvard Koreas», wo Baek ihren Master in Sozialwissenschaften absolviert hat. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie über Sexualstraftaten, die im Internet begangen werden, wie Molka. Dafür schaute sie sich unzählige Videos an, die sie teils so verstörten, dass sie sich in psychologische Behandlung begeben musste. Sie begann Abscheu gegenüber Männern zu empfinden und identifiziert sich inzwischen nicht mehr als bisexuell, sondern als lesbisch.
Heute arbeitet sie als Expertin für digitale Sexualstraftaten. Zuletzt klärte sie ältere Richter in einem Workshop über Deepfakes auf, die sich in Südkorea zu einem ernsthaften Problem entwickelt haben. 53 Prozent aller Personen weltweit, deren Gesicht für Deepfake-Pornos «digital geraubt» wurde, sind Sängerinnen oder Schauspielerinnen aus Südkorea.
Auf Südkoreas Feministinnen haben Deepfakes einen ähnlichen Effekt wie die spy cams: Sie ziehen sich aus Selbstschutz zurück, erst aus der Gesellschaft, jetzt aus dem Netz. Kaum eine postet noch ihr Gesicht auf Social Media, viele teilen nur noch Katzen- und Kaffeefotos. Manche von ihnen erscheinen mit FFP2-Masken zu Interviews, Baek lässt sich nur mit Maske fotografieren.
Und doch habe sich seit den Demonstrationen 2018 einiges getan, sagt Baek. So werde im juristischen Kontext nicht mehr von Molkas gesprochen, was sich fast niedlich anhört, sondern von «digitalen Sexualstraftaten». Auf öffentlichen Toiletten am Flughafen oder an U-Bahn-Stationen weisen heute Schilder darauf hin, dass illegales Filmen eine Straftat sei und gemeldet werden soll. Baek ist stolz, dazu beigetragen zu haben.
In Südkorea haben sich Technologie und Wirtschaft seit dem Krieg gegen den kommunistischen Norden in rasendem Tempo entwickelt: Hatten 1964 noch 88 Prozent der Haushalte in Südkorea keinen Strom, verfügten 60 Jahre später 99,7 Prozent über einen Internetzugang. Koreanische Konzerne wie Hyundai, Kia, LG, Samsung exportieren ihre Technologieprodukte in die ganze Welt. Nirgendwo sonst besitzen mehr Menschen ein Smartphone.
Doch in Sachen Gleichstellung hinkt das Land hinterher. Im «Global Gender Gap»- Ranking des Weltwirtschaftsforums lag Südkorea 2024 auf Platz 94 von 146. Obwohl Frauen zwischen 25 und 34 Jahren häufiger über einen Hochschulabschluss verfügen als Männer im selben Alter, ist es für sie schwieriger, eingestellt zu werden. Gelingt es ihnen, eine Anstellung zu ergattern, verdienen sie im Durchschnitt 30 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen für den gleichen Job. Und dank fehlender Vereinbarkeit ist die Chance gross, dass eine Frau nach der Geburt eines Kindes nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zurückkehrt.
Einen Safe Space schaffen
Kim Jin-ah, 49, hat sich extra noch einmal die Haare schneiden lassen, sie sollten schön kurz sein für die zwei Interviews, die ihr bevorstehen: eins mit einer feministischen Filmcrew und eins mit mir. Kim gebe ständig Interviews, «The Economist» und «Le Figaro» seien schon hier gewesen, sagt eine Stammkundin, als sie uns an der Bar von Kims Cafés sitzen sieht.
Dass Kim zum Gesicht der 4B-Bewegung geworden ist, hat damit zu tun, dass man sie im Internet findet, wenn man sie sucht. Das unterscheidet sie von vielen anderen Anhängerinnen. Als Kim 2017 ihr Café, den «Woolf Social Club», eröffnete, wollte sie einen sicheren Ort für Feministinnen schaen. Das sei wichtig, sagt sie, vor allem in Südkorea, wo vieles online verhandelt werde. In ihrem Café sollten Frauen feministische Werke aus dem Regal ziehen und in Ruhe lesen können wie «Das andere Geschlecht» von Simone de Beauvoir oder die Comicromane von Alison Bechdel, der Namensgeberin des Bechdel-Tests. Und sie sollten dort ohne Angst über ihre Überzeugungen sprechen können.
Die physische Präsenz birgt aber auch Risiken: Nachdem Kim 2019 ein Buch über Feminismus geschrieben, 2020 die Women’s Party mitgegründet und 2021 in Seoul als Bürgermeisterin kandidiert hatte, wussten nicht nur Feministinnen, sondern auch Frauenhasser, wo sie zu finden war. Maskierte Männer übertrugen eine Weile lang einen Livestream von ihrem Café ins Internet und damit auch von allen, die dort ein und aus gingen. Da die Streamer anonym waren, konnte die Polizei sie nicht ausfindig machen.
Namensgeberin des «Woolf Social Club» ist Virginia Woolf, die 1929 schrieb, dass Frauen in ihrem Schaffen nur unabhängig sein könnten, wenn sie ein eigenes Einkommen und ein eigenes Zimmer hätten, «A Room of One’s Own».
Virginia Woolf ist nicht nur im Namen des Cafés zu finden, sondern auch auf den Tassen oder an der Toilettentür, wobei die Referenz «Restroom of One’s Own» auch darauf anspielen dürfte, dass Gäste ihre Hose herunterlassen und sich aufs Klo setzen können, ohne heimlich gefilmt zu werden.
Kim weiss, wie man eine Corporate Identity erschafft. Sie studierte visuelle Kommunikation und arbeitete später in einer der grössten Werbeagenturen des Landes. Sie liebte es, fühlte sich wie Samantha in ihrer damaligen Lieblingsserie «Sex and the City», wenn sie auf Stilettos durch das Büro stöckelte und Aufmerksamkeit auf sich zog. Feminismus lag ihr fern, alles drehte sich bei ihr um Karriere und Konsum. Koreanerinnen besitzen im Durchschnitt 5,9 Kreditkarten.
Doch dann bekam 2010 nicht sie, sondern ein Kollege die Beförderung, auf die sie so hart hingearbeitet hatte. Die Begründung? Er hatte eine Familie zu ernähren, sie nicht. Da dachte sie zum ersten Mal über Sexismus nach und kündigte. Doch es war der «Gangnam-Mord», sechs Jahre später, der sie zur Feministin machte.
Sich aus der Ehe befreien
Der Femizid, der als «Gangnam-Mord» bekannt ist, weil er sich in der Nähe der gleichnamigen U-Bahn-Station in Seoul ereignete, markierte den Moment, in dem viele Koreanerinnen verstanden, dass sie umgebracht werden könnten, einfach, weil sie Frauen sind. Ein Mann hatte auf einer öffentlichen Toilette eine Frau erstochen und begründete dies damit, dass er sich sein Leben lang «von Frauen ignoriert» gefühlt hatte. Er bekam zwar eine Haftstrafe von 30 Jahren wegen Mordes, die Behörden deklarierten trotzdem: kein Hassverbrechen.
In Kim Jin-ahs Café zeugen von ihrem alten Leben einzig die zahlreichen Schallplatten, die im Café zwei Wände zieren. Bevor sie ihren Ex-Mann verliess, führte sie mit ihm eine Vinyl-Bar. «Ich liebe Jazz», sagt sie, «doch mit den Texten tue ich mich schwer.» Sängerinnen wie Sarah Vaughan sängen ständig über den Schmerz, der ihnen von Männern zugefügt wurde. Schrecklich!
Heute lebt Kim mit einer Frau zusammen und schätzt sich glücklich, nicht länger die emotionale Stütze der Männer sein zu müssen, sagt sie. Ihre Ehe sei vom Patriarchat geprägt gewesen, sie habe sich darin fast selbst verloren. 4B stehe für sie auch dafür: als Frau nicht mehr andauernd als Ressource angezapft und ausgenutzt zu werden.
Heute gebe sie kaum mehr Geld für Kosmetik und Kleidung aus, sagt Kim, «nur noch für Katzenstreu». Zu den Stammkundinnen des «Woolf Social Club» gehören auch drei Strassenkatzen. Kim füttert sie und hat ihnen draussen ein kleines Zelt errichtet, damit sie bei Regen Zuflucht finden. Daheim hat sie noch drei Hauskatzen. Kim ist also, wie US-Vizepräsident J. D. Vance sagen würde, eine «kinderlose Katzendame», aus freier Wahl und Überzeugung.
Auch in Südkorea stehen kinderlose Frauen in der Kritik. Junge Koreaner tun sich derzeit schwer damit, den Erwartungen nachzukommen, von denen sie denken, dass sie sie als Männer zu erfüllen haben: einen guten Job finden, heiraten, ein Haus kaufen, eine Familie gründen und versorgen. Das lässt sie politisch nach rechts rutschen. Der Widerstand von Koreanern gegenüber der Emanzipation von Frauen nimmt zu, zeigt eine Studie. Weil Südkorea eine ethnisch sehr homogene Gesellschaft ist, muss das othering eben über das Geschlecht, die vielleicht sichtbarste Trennlinie, erfolgen.
Es gibt Koreaner, die den Feministinnen die Schuld geben, dass sie keine Ehefrauen finden. Sie denken auch, die Frauen hätten einen Vorsprung auf dem Arbeitsmarkt, weil sie keinen Militärdienst leisten müssen, und würden ihnen deswegen die Jobs strittig machen. Das alles macht sie noch weniger attraktiv für potenzielle Partnerinnen.
Es lässt sich aber auch politisch ausnutzen. Der kürzlich abgesetzte Präsident Yoon Suk-yeol gewann die Wahl 2022 vor allem, indem er den Feminismus für die niedrige Geburtenrate verantwortlich machte, und versprach, das Ministerium für Gleichstellung und Familie abschaffen zu wollen. Mehrheitlich junge Männer stimmten für ihn. Eine Entwicklung, die auch andere Länder kennen.
Wie beim Geheimdienst absichern
This_Blackberry2469 ist die einzige der vier Frauen, die ihre Geschichte erzählen, die keine kurzen, sondern kinnlange Haare hat und ihren Namen verschweigen will. Damit stellt die 36-Jährige unter den 4B-Anhängerinnen allerdings eher die Regel dar: Sich in Südkorea als Feministin zu bekennen, kann für Frauen krasse Folgen haben.
This_Blackberry2469 wartet am Bahnhof ihres Wohnorts, einer Stadt im Süden Südkoreas. Weil sie nicht im lokalen «Starbucks» über 4B sprechen möchte, aus Angst, dass jemand mithört, fahren wir in einem Taxi bis zur Stadtgrenze und dann in einem anderen zu einem Bambuswald. Dass wir auf dem Weg dorthin das Taxi wechseln, hat nichts damit zu tun, dass sie wie eine Spionin ihre Spuren verwischen will, sondern damit, dass Stadttaxis nur innerhalb der Stadt fahren dürfen.
Trotzdem: Alle Informationen, anhand deren This_Blackberry2469 ausfindig gemacht werden könnte, will sie hier nicht stehen haben – wie sie wirklich heisst, wo sie aufgewachsen ist, an welchen Universitäten sie in Südkorea und Skandinavien studiert hat, wo sie arbeitet. Vielleicht ist sie so vorsichtig, weil sie Informatik studiert hat und weiss, wie einfach es ist, eine Identität zu entlarven?
Nicht nur. Unter südkoreanischen Feministinnen seien diese Sicherheitsmassnahmen Standard, sagt sie. Um in feministische Internetforen aufgenommen zu werden, müsse man zum Beispiel Fragen über seine Periode beantworten, um zu beweisen, dass man eine Frau sei. Etwa, welche Bindenmarke man verwende, Chanel oder Gucci. Der Gedanke dahinter: Männer, die versuchen würden, in diese geschlossenen Gruppen zu gelangen, um die Frauen dort zu doxen, also ihre privaten Informationen zu stehlen, würden nicht wissen, dass die Luxusmarken Chanel und Gucci zwar Handtaschen, aber keine Hygieneprodukte verkaufen, und sich so selbst verraten.
This_Blackberry2469 ist der Name, unter dem sie im Internetforum Reddit den Post verfasste, über den ich sie fand. Sie schrieb: «Selbst ernannte ‹Expertinnen und Experten› führen die niedrige Geburtenrate Südkoreas auf die starke Wettbewerbskultur oder den finanziellen Druck zurück und sprechen der 4B-Bewegung jegliche Bedeutung ab.» Dabei sei Korea ein Land, in dem eine Frau für «etwas Harmloses wie das Tragen eines T-Shirts mit dem Spruch ‹Mädchen brauchen keinen Prinzen›» ihren Job verlieren könne. In einem solchen Setting sei es für Frauen gefährlich, o en über feministische Überzeugungen zu diskutieren oder gesellschaftliche Normen zu kritisieren. «Um uns selbst zu schützen, gehen wir mit 4B um wie mit einem Geheimnis.»
Ihren Post auf Reddit schrieb This_Blackberry2469 in einer Nacht, kurz nachdem Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten wiedergewählt worden war. US- Amerikanerinnen drohten in Reaktion darauf, wie die Südkoreanerinnen ohne Männer leben zu wollen.
Diese «Expertinnen und Experten», sagt This_Blackberry2469, dächten, wenn die Work-Life-Balance besser wäre, es mehr Unterstützung in der Kinderbetreuung gäbe und die Immobilienpreise sinken würden, würden wir schon wieder heiraten und Kinder kriegen wollen. Aber das sei nicht der Fall. Sondern? 4B, sagt sie, sei kein Sexstreik, wie es ihn zum Beispiel während der zweiten Frauenbewegung in den Sechziger- und Siebzigerjahren im Westen gegeben habe, sondern eine langfristige Lebensweise. «Es ist kein Deal», sagt sie. Es gehe nicht darum, mit Aktionen um Aufmerksamkeit von Männern zu buhlen, damit sie den Forderungen der Frauen endlich entgegenkommen. Es gehe darum, für sich selbst ein sicheres Leben zu leben, und das schliesse nun mal Männer aus.
Im Bambuswald an einem Teich mit Springbrunnen – wieder so eine spionage- ähnliche Situation – vergleicht sie Männer mit einer gefährlichen Nachbarschaft, die man meide, wenn man könne. Für sie ist 4B am ehesten eine Sicherheitsmassnahme.
Als Schülerin dürfte This_Blackberry2469 in einer öffentlichen Toilette in Seoul heimlich gefilmt worden sein. Erfahren hat sie davon später aus einem Artikel, der aufdeckte, dass in dieser Toilette eine Plastiktüte gefunden worden war, die eine dieser klitzekleinen Kameras enthielt. Sie meint sich zu erinnern, diese Tüte in dieser Toilette gesehen zu haben. Nicht zu wissen, sagt sie, ob sie auf einem der Abertausenden Videos zu sehen sei, die im Internet zirkulierten, habe sie paranoid gemacht: «Ich habe mich in meinem eigenen Land nicht mehr sicher gefühlt, bis heute nicht.»
Als dann auch noch der Name eines Freundes, von dem sie sagt, dass er der anständigste Typ gewesen sei, den sie kannte, auf einer Liste von Freiern auftauchte, die auf dem Kurznachrichtendienst Telegram geleakt wurde, verlor sie jegliches Vertrauen und schloss ab mit Männern. Sich bei jedem potenziellen Partner zu fragen, ob er einer von den Guten sei oder doch irgendwo eine Kamera aufgestellt habe, sei nicht gesund gewesen: «Es gibt in dieser Gesellschaft keinen Safe Space zum Daten.» Und was ist mit Frauen? «Ich habe mich nie zu Frauen hingezogen gefühlt, ich bin heterosexuell», sagt sie. «Wahrscheinlich würde ich eher eine männliche KI daten als eine echte Frau.»
Als die «Financial Times» letztes Jahr Zahlen «zur neuen globalen Geschlechterkluft» veröffentlichte, stand Südkorea ganz oben. Das Auseinanderdriften von jungen Frauen und Männern ist in Südkorea zwar besonders deutlich, aber die Dynamik, dass Frauen immer liberaler und Männer immer konservativer werden, zeichnet sich auch im Westen ab: Bei den US-Wahlen zum Beispiel, die die «New York Times» als «gender election» bezeichnet hat, wählten junge Männer und Frauen politisch so weit auseinander wie nie zuvor, und bei den EU-Wahlen verdankten rechte Parteien wie der französische Rassemblement National oder die deutsche AfD ihren Erfolg vor allem jungen Männern. Die Situation in Südkorea sei zwar extrem, schreibt die «Financial Times», doch sie müsse anderen Ländern als Warnung dienen.
B wie Männer-Boykott
Lee Ye-eun wurde bei einem Bewerbungsgespräch bei einer bekannten Anwaltskanzlei gefragt, was es mit ihren kurzen Haaren auf sich habe. Das sei ihr Stil, sagte sie. Das Praktikum bekam sie nicht. In einem Land, in dem Frauen sich für Bewerbungsfotos extra die Zähne bleichen, Filler einsetzen und sich professionell schminken lassen, um, wie man in Südkorea sagt, «Samsung-würdig» auszusehen, kommt man mit kurzen Haaren nicht weit. Der 4B-Bewegung beizutreten, kommt demnach auch einem gesellschaftlichen Ausstieg gleich. Viele Anhängerinnen wohnen in Wohngemeinschaften oder bei ihren Eltern, weil sie es sich nicht leisten könnten, allein zu wohnen, zu jobben oder zu studieren.
«Manchmal mache ich mir schon Sorgen um die Zukunft», sagt sie. «Ich habe kein stabiles Einkommen, dafür eine gute Gemeinschaft um mich. Aussenstehende denken oft, als 4B-Anhängerin sei man auf sich allein gestellt, wie ein einsamer Wolf, aber meine Freundinnen und ich zahlen uns zum Beispiel gegenseitig die Mieten, wenn das Geld mal nicht reicht. Was ich damit auch sagen will: 4B ist nicht gegen Männer, sondern für Frauen.» Zu den vier Bs sind darum zuletzt zwei weitere dazugekommen: Das fünfte B fordert einen Boykott von Produkten oder Dienstleistungen, die für Frauen mehr kosten als für Männer, das sechste die Unterstützung von Unternehmen von Frauen.
Lange habe sie gefürchtet, ihr Leben sei mit 30 vorbei, sagt Lee, die 28 Jahre alt ist. Zu o habe sie gehört, dass Frauen wie Weihnachtskuchen seien, die ab dem 25. schlecht würden und unbedingt vorher verzehrt, sprich: verheiratet werden müssten. Das habe sie unter Druck gesetzt. Doch seit sie die Ehe aus ihrer Lebensplanung gestrichen habe, sei sie ein Mensch voller Möglichkeiten.
Das erzählt mir Lee in ihrem Lieblingscafé in Seoul. Sie studiert und kommt häufig zum Lernen hierher. In den oberen zwei von vier Stöcken sind lange Fensterbänke angebracht, an denen auch an diesem Tag viele Studierende vor ihren Laptops sitzen und dabei auf eine belebte Kreuzung blicken. Je nachdem, wo man sitzt, sieht man auch das Dongdaemun Design Plaza der Stararchitektin Zaha Hadid.
Lee studiert nach Politikwissenschaft nun auch noch Jura. Nicht von ungefähr: Politikwissenschaft habe sie gewählt, sagt sie, weil sie sich im politischen System auskennen müsse, um Veränderung voranzubringen. Für Jura habe sie sich entschieden, weil sie Frauen in Not durch Gesetzesänderungen oder Gerichtsentscheide besser schützen wolle. Ihre Arbeiten schreibt auch sie immer über Sexualstraftaten. Sie will sich darauf spezialisieren, dort sieht sie den grössten Veränderungsbedarf.
Lee wollte die Welt immer schon zu einem besseren Ort machen. Sie sei, sagt sie, ein engagiertes Kind und in der Schule immer Klassensprecherin gewesen. Von ihrem Vater habe sie immer gesagt bekommen, dass sie alles schaffen könne. Aber als sie das Erwachsenenalter erreichte, spürte sie Grenzen in der Gesellschaft, gerade weil sie sehr selbstbewusst war. Sie begann sich anzupassen, hielt ihre Meinung zurück, trat in den Schatten ihres damaligen Freundes, dachte, das gehöre eben zum Erwachsen- werden dazu.
Sie verstummte nicht nur, sie wollte verschwinden. Sie sei Schwimmerin gewesen, erzählt Lee, und habe sich so für ihre starken Schulten geschämt, dass sie mittels strenger Diäten versuchte, sie zu schmälern. «Es gab Tage, an denen ich nur eine Gurke, eine halbe Dose Thunfisch und etwas Milch oder Zitronenwasser zu mir nahm.» Ihr Körper konterte mit Allergien und Haarausfall.
Die Schönheitsstandards in Südkorea – dem Land, dem die Welt Skincare-Routinen und Schönheitsprodukte mit Schneckenschleim und Lachssperma, kurz K-Beauty, zu verdanken hat – sind so schonungslos, dass jede dritte Südkoreanerin zwischen 19 und 29 Jahren schon «etwas hat machen lassen».
Auch Lee hat sich einer Schönheitsoperation unterzogen. Die zweite Augenlidfalte gilt in Korea, wie in anderen asiatischen Ländern auch, als das Schönheitsideal schlechthin. Und weil Lee diese nur an einem Auge hatte, liess sie sich mit 20 Jahren von ihrer Tante eine Augenlidoperation schenken. Sie habe es nicht hinterfragt. Bis heute zieht sich eine dünne Narbe über ihr Lid.
Nach dem «Gangnam-Mord» begann sie feministische Bücher zu lesen und merkte, dass vieles, was dort beschrieben wurde, ihre Realität reflektierte. Ihrem Freund drückte sie diese Bücher immer wieder in die Hand, in der Hoffnung, dass er sie lesen, sich mit ihr darüber unterhalten und, im Endeffekt, ein anderer werden würde. Wurde er nicht.
Sex hatte sie mit ihm während der drei Jahre Beziehung nie. Sie sei eigentlich eh nur aus gesellschaftlichem Druck und auf sein Drängen hin mit ihm zusammengekommen, sexuell zu ihm hingezogen habe sie sich nicht gefühlt. Später verstand sie auch, warum: Sie stand auf Frauen. Dass sie lesbisch ist, kann sie ihren Eltern nicht sagen, die sind streng christlich und ho en noch, dass ihre einzige Tochter irgendwann einen Christen heiraten und mit ihm viele Kinder haben wird. Lees Ausrede? Das Studium sei zu streng, etwas, was ihre leistungsorientierten Eltern gelten lassen. Erst mal.
Und dann? Was für eine Beziehung haben Frauen, die Männer meiden, zur Gesellschaft und zum Land? Lee sagt: «Wir Koreanerinnen haben kein Land, weil Korea nicht für uns, sondern gegen uns kämpft. Warum sollten wir uns um unser Land sorgen, wenn sich unser Land nicht um uns sorgt?»