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Die Lieder, die wir als Teenager hören, beeinflussen unseren Musikgeschmack fürs Leben.   © Imago

Spiel mir meinen Song

Die Lieder, die wir als Teenager gehört haben, lieben wir fürs Leben. Können wir uns die Gefühle von damals zurückholen? Eine Anleitung

Text: Elena Lynch

Medium: NZZ am Sonntag Magazin, 17.11.2024

 

Vier Jugendliche sitzen neulich in einem Berliner U-Bahn-Viererabteil, zählen bis drei und spielen dann denselben Song auf ihren Handys ab. Sie tun es wieder und wieder. «Eins, zwei, drei, play», «eins, zwei, drei, play». Sie kennen den Takt, den Text, beides werden sie wahrscheinlich nie vergessen.

 

Wann ist mir selbst das abhandengekommen? So Musik zu hören, dass ich ein Lied über Tage in Endlosschlaufe laufenlasse und mein ganzes Jetzt da reinpacke? So umfassend, dass ich beim späteren Wiederhören meine, auf der Musikdatei seien meine Emotionen mit eingeschrieben worden? Ich vermisse diese Verbundenheit mit der Musik, mit mir, meinen Gefühlen, meiner Gegenwart. Kann ich mir das zurückholen?

 

Als Jugendliche verbrachte ich in den Nullerjahren viel Zeit vor dem Computer, entdeckte neue Musik, brannte sie für Freundinnen auf CD, später lud ich sie auf USB-Sticks. Wie viele Stunden ich wohl im iTunes-Store verbrachte, mir dreissig Sekunden lange Ausschnitte anhörte und zu entscheiden versuchte, welcher Song mir mein Taschengeld wert war? Wohl ebenso viele, wie ich auf dem Computer «Sims» spielte.

 

Es war die Zeit, bevor das Leben einen mit Verpflichtungen eindeckt. Wahrscheinlich ist es das, was ich mir zurückwünsche, wenn ich an die Jugendlichen aus der U-Bahn denke: diese unverschämte Unbekümmertheit. Musik. Mehr nicht.

 

Der Musik-Streamingdienst Deezer befragte im Jahr 2018 Britinnen und Briten zu ihren Musikvorlieben und Hörgewohnheiten. Drei Viertel der 24-Jährigen gaben an, zehn oder mehr neue Titel pro Woche zu hören. Die meisten stiessen monatlich auf rund fünf neue Künstlerinnen und Künstler. Später stagnieren wir in unserem Musikgeschmack: Mit durchschnittlich 33 Jahren haben wir festgelegt, was wir für den Rest unseres Lebens hören werden, wie eine Analyse von Spotify- Hörerdaten 2015 ergab. Wer kleine Kinder hat, entfernt sich dabei schneller vom Mainstream und damit vom Puls der Zeit.

 

In der Deezer-Umfrage gab die Hälfte an, sie würde gerne mehr Musik entdecken, bloss fehle die Zeit dafür. Auch ich zahle Miete und Steuern, möchte informiert bleiben, Zeitung lesen, Podcasts hören, Rezepte ausprobieren, meine Beziehung pflegen, Freundinnen sehen, die Familie anrufen, eine saubere Wohnung haben, ins Yoga, ins Schwimmbad, in die Sauna gehen, die neusten Filme sehen, Lokale ausprobieren, mitreden, dazugehören. Wann bin ich da einmal allein in einem Raum und singe lauthals zu einem eben entdeckten Lied? Wahrscheinlich brauchte ich «das eigene Zimmer», für das sich Virginia Woolf im gleichnamigen Buch 1929 aussprach, nicht nur zum Schreiben, sondern auch zum Musikhören.

 

Für immer 13-jährig
Erwachsene hören eher zu Hause Musik, «im eigenen Zimmer», wie ich es täte, wenn ich die Zeit dazu hätte. Jugendliche hören sie in einer Vielzahl von Kontexten, auf Partys, beim Hausaufgabenmachen oder mit Freundinnen und Freunden in der Berliner U-Bahn. Nie werden wir mehr Musik hören als in unserer Jugend.

 

Die kanadische Musikerin und Psychologin Arielle Bonneville-Roussy beschreibt Musik als Mittel zur Selbstentdeckung, -regulierung und -darstellung. Sie hilft uns in den Jugendjahren, uns selbst zu finden, vermutlich bleibt sie auch darum für immer haften. Im Erwachsenenalter habe sich dann ein stabiles Selbstbild herausgebildet, schreibt Bonneville-Roussy, wir würden resistenter gegenüber Gruppendruck und definierten unsere Identität stärker über unsere Partnerschaft, Elternschaft oder Karriere. Das wiederum dürfte die Funktion der Musik bei der Identitätsstiftung schmälern.

 

Am häufigsten spielen wir auf dem Musik-Streamingdienst Spotify Songs aus unseren Jugendjahren ab, wie eine Datenanalyse der «New York Times» ergab. Männer geben dabei als Lieblingssongs solche an, bei deren Erscheinen sie im Schnitt 14-jährig waren. Der musikalisch prägendste Zeitraum ist bei Männern das Alter von 13 bis 16 Jahren, bei Frauen zwei, drei Jahre früher. In meinem Fall wären das die Jahre 2002 bis 2004 gewesen. Tatsächlich werde ich zu einem Woo- Girl, wenn ich Hits aus dieser Zeit höre, ich habe mir 2003 «Milkshake» von Kelis als erste EP und «Elephunk» von The Black Eyed Peas als erstes Album bei Ex Libris gekauft und wünsche mir auf Geburtstagen von Gleichaltrigen ab einem gewissen Alkohollevel vom DJ den Song «Toxic» von Britney Spears. Dennoch würde ich nicht sagen, dass diese zwei Jahre meinen Musikgeschmack determiniert haben. Als Teenager hörte ich nicht nur Musik aus den Nullerjahren. Da gab es auch David Bowie, The Smiths, Talking Heads, Patti Smith, Fleetwood Mac, die alle den Musikgeschmack meiner in den Fünfzigern geborenen Eltern geprägt hatten, sowie Blur, Oasis, Cranberries, Portishead, Radiohead – zeitgenössische Bands, die sie daheim oder im Auto abspielten. Als Elternteil, sagt mein Vater im Rückblick scherzend, habe man die Verantwortung, sicherzugehen, dass die Kinder auch etwas anderes hörten als «den Mist, den du als Teenager gehört hast». Damit dürfte er auf meine Shania-Twain-Phase anspielen.

 

Speicher der Emotionen
Die Musik, die ich als Teenager abends in meinem Zimmer abspielte, während ich auf dem Boden sass (nahe der Steckdose, wo mein Sony Ericsson K610i lud) und SMS auf 160 Zeichen kürzte, habe ich nicht nur gehört, sondern gefühlt. War ich wütend auf meine Eltern, schrie ich zu «Family Portrait» von Pink («Can we work it out? Can we be a family?»), war ich sauer auf meinem Schwarm, schluchzte ich zu «Complicated» von Avril Lavigne («Why did you have to go and make things so complicated?»). Irgendeine Emotion gab es immer, die musikalisch untermalt werden wollte, bei all den ersten Malen, die ich damals durchlebte: erster Auslandaufenthalt, Kuss, Kater, Suff, Sex, die Trennung der Eltern, die Sehnsucht nach Widerstand und Welt, ohne zu wissen, wohin.

 

Laut einer Studie der Universität Leeds aus dem Jahr 2008 hinterlässt nicht jede Lebensphase gleich starke Spuren in unserem Gedächtnis. Um die Pubertät herum gibt es in der Erinnerungskurve eine Beule, «reminiscence bump» genannt: Unser Hirn speichert erstmalige Eindrücke und emotionale Erlebnisse besonders gut ab, und von solchen sind unsere Jugendjahre voll. Also trägt uns die Erinnerung oft in jene Zeit zurück, und Musik hilft uns dabei, indem sie unseren visuellen Cortex anregt: Wenn wir einen Song von damals hören, spielt er direkt eine Diashow mit Bildern von damals vor unserem inneren Auge ab.

 

Die Lieder, die wir als Teenager hören, dürften auch deswegen unseren Musikgeschmack fürs Leben beeinflussen, weil sie Soundtracks des Schmerzes waren, für immer graviert in unser Gedächtnis. Warum ich mir ausgerechnet diesen jugendlichen Schmerz zurückholen will, indem ich mich wieder mehr der Musik widme? Weil Leid ein Ausdruck von Liebe und Lebendigkeit ist – und mein geregeltes, getaktetes Erwachsenenleben mehr Gefühle und Gegenwärtigkeit vertragen kann. Die Offenheit gegenüber neuer Musik und neuen Genres, die Kinder und Jugendliche laut Studien auszeichnet, lässt sich auch später kultivieren. Man muss sich nur die Mühe machen, die Zeit nehmen, hinhören halt.

 

Ich frage eine Freundin, die DJ ist, wie sie neue Musik entdecke. Es gebe zwei Arten, sagt sie: Entweder geschehe es beiläufig, indem sie daheim Radio höre und auswärts ihre Antenne ausgestreckt halte, oder bewusst. Dabei klappe sie ihren Laptop auf und scrolle auf Youtube durch die Channels, denen sie dort folge. Oft lande sie danach bei Discogs, einer kostenlosen Online-Datenbank für Diskografien, wo sie Platten kaufe, die sie möge. Musik zu suchen, sei immer ein Rabbit-Hole, man fange irgendwo an und tauche Stunden später irgendwo ganz anders wieder auf, ohne wirklich zu wissen, wie man dorthin gekommen sei. Zwischenstopps mache sie meistens auf Bandcamp, einer Promotionsplattform für unabhängige Künstlerinnen und Künstler, oder auf dem Musikdienst Soundcloud, wo sie sich dann durch die Mixes höre, die DJ-Freundinnen und -Freunde geherzt hätten.

 

Ein neues Lied für mein Herz
Geschmack, da sind wir beide uns einig, generiert sich selten aus einem selbst heraus, er ist eher geprägt von dem, was man von anderen vermittelt erhält. Früher habe ich gehört, was mein Vater mit mir teilte, auf MTV lief oder der Bruder einer Freundin in einem musikalischen Newsletter einmal wöchentlich empfahl. Heute ist es vielleicht ein Lied, das mir vom Instagram-Konto, in dessen Beschreibung «discovering music» steht, empfohlen wurde; ein Konzert, von dem ich ein Video gesehen habe, oder eine Musikerin, die in einem Interview erwähnt worden ist.

 

Geschmack ist immer Patchwork. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu beschreibt ihn in seinem Buch «Die feinen Unterschiede» (1982 auf Deutsch erschienen) als gesellschaftlich geprägt – durch die Art, wie wir sozialisiert wurden, und durch das soziale Umfeld, in dem wir uns bewegen. Oder dem wir zugehören möchten, wie ich ergänzen würde – etwa den Coolen auf dem Pausenplatz oder den Bobos an der Universität. Ich zum Beispiel eigne mir auch immer Musik an, die von Leuten gehört wird, denen ich ähnlicher oder näher sein möchte.
Findet meine DJ-Freundin einmal Musik, von der sie meint, dass sie noch kein anderer DJ jemals abgespielt habe, fühlt sie sich nach eigener Aussage fast «übermenschlich». So habe ich mich zwar noch nicht gefühlt, seit ich mich durch die eingangs erwähnte U-Bahn-Szene habe animieren lassen, in Musik einzutauchen wie einst. Aber ich erlebe mehr Momente, in denen ich mich von ihr in die Melancholie locken lasse. Meistens muss dafür etwas richtig schieflaufen.

 

Vergangenen Silvester, den ich in einem einsamen Ferienhaus in Irland verbrachte, zerstritt ich mich mit meiner Begleitung dermassen, dass ich den Jahreswechsel damit verbrachte, allein ins Feuer zu starren, Gin Tonic zu trinken, «I Love You» von Fontaines D. C. («I love you / I love you / I told you I do / It’s all I’ve ever felt / I’ve never felt so well») zu hören und später allein auf der Strasse zu stehen, in den Himmel zu schauen und zu «My Love Mine All Mine» von Mitski («Moon, a hole of light / Through the big top tent up high / Here, before and after me / Shining down on me») mitzusingen. Die Lieder kannte ich erst seit kurzem. Ich hatte schlimmere Silvester.

 

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