Text: Elena Lynch
Medium: NZZ, 25.6.2022
Rebecca Gomperts, seit zwanzig Jahren kämpfen Sie dafür, dass Frauen abtreiben können. Warum brauchen Frauen Abtreibungen?
Weil sie nicht schwanger sein wollen. Es braucht keine Rechtfertigung, wenn Frauen abtreiben wollen. Wenn eine Frau nicht schwanger sein will und trotzdem schwanger wird, dann sollte sie abtreiben dürfen. Dafür sollte sie keinen Grund brauchen ausser den, dass sie kein Kind will. Wir sollten als Gesellschaft vielmehr nach den Gründen fragen, warum Menschen Kinder haben (wollen). Schliesslich muss man sich dann um einen Menschen kümmern. Das ist die viel grössere Entscheidung.
1999 begannen Sie Ihre Arbeit als Abtreibungsaktivistin mit einem «Abtreibungsschiff». Sie fuhren mit dem Schiff nach Guatemala, Irland, Marokko, Mexiko, Spanien, Portugal und Polen und haben dort Frauen aufgeladen, um ihnen dann in internationalen Gewässern Medikamente mit den Wirkstoffen Mifepriston und Misoprostol zu geben, damit sie so abtreiben können. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Nach meiner Ausbildung zur Abtreibungsärztin arbeitete ich auf einem Schiff von Greenpeace. In Südamerika traf ich viele Frauen, denen es psychisch und körperlich sehr schlecht ging, weil sie ungewollt schwanger waren und keinen Zugang zu einer sicheren, legalen Abtreibung hatten. Auf der Reise erfuhr ich von einer Gesetzeslücke, die es ermöglichen würde, diesen Frauen zu helfen.
Was war die Gesetzeslücke?
Zwölf Meilen vor einer Küste, in internationalen Gewässern, gelten die lokalen Gesetze nicht – stattdessen müssen Schiffe dort die Gesetze des Landes befolgen, unter dessen Flagge sie fahren. Ich komme aus den Niederlanden, dort sind Schwangerschaftsabbrüche seit 1984 sehr grosszügig geregelt. Ein Schiff unter holländischer Flagge kann somit legal in einem Land anlegen, in dem Abtreibung verboten ist, dort Frauen in Not aufladen und sie in internationale Gewässer fahren, um dort sichere, legale Abtreibungen durchzuführen, ohne dafür rechtlich belangt zu werden.
Das war der Beginn Ihrer Nichtregierungsorganisation «Women on Waves». Später flogen Sie mit einer Drohne Abtreibungspillen über Landesgrenzen. 2015 beispielsweise von Deutschland nach Polen.
Die Idee ist dieselbe wie beim Schiff: Die Drohne wird von einem Land aus gesteuert, in dem Abtreibung legal ist. So macht sich niemand strafbar. Im Prinzip ist es Frauen auch in Polen oder anderswo erlaubt, diese Medikamente einzunehmen. Zumal Mifepriston auch gegen einen hohen Cortisolspiegel und Misoprostol gegen Magen- und Darmgeschwüre verschrieben wird. Nur dürfen die Frauen dabei nicht schwanger sein. Sie dann zu verschreiben, wäre illegal – zumindest in Ländern, die Abtreibung verbieten.
Das klingt nach einer weiteren Gesetzeslücke, die Sie ausnutzen können.
Genau. Man könnte diese Medikamente vorbeugend an Frauen verschreiben.
Damit die Frauen sie einnehmen können, wenn sie ungewollt schwanger werden würden?
Ja, denn diese Pillen an nicht schwangere Frauen zu verschreiben, ist erlaubt. Und sicher ist es auch. 2008 stellte eine britische Studie fest, dass Frauen durchaus in der Lage sind, sich im Fall einer ungewollten Schwangerschaft das Medikament vor der zehnten Schwangerschaftswoche selbst zu verabreichen, ohne dass sie eine Ärztin oder einen Arzt aufsuchen müssen. Das heisst: Für medikamentöse Schwangerschaftsabbrüche braucht es keine Ärztinnen und Ärzte, welche die Frauen bei der Beratung vielleicht bevormunden, indem sie ihnen raten, nochmals darüber zu schlafen, und ihnen erst dann ein Rezept ausstellen. Die Frauen kriegen das auch gut allein hin.
Die medikamentöse Abtreibung mit der Pille wirkt bis zur zehnten Woche nur in 87 von 100 Fällen.
Zu 98 Prozent klappt es mit einer zweiten, zusätzlichen Dosis. Aber klar, manchmal funktioniert es auch nicht. Es sollte jeder Frau freigestellt sein, zu entscheiden, welchen Eingriff sie wünscht. In Ländern, wo es legal ist, können Frauen wählen, wie sie abtreiben wollen. Beide Methoden sind sicher. Ein Medikament zu schlucken, ist aber weniger invasiv, als sich operieren zu lassen. Sollte eine Operation die einzig sichere Option sein, die zur Verfügung steht, dann würde ich das dennoch nicht verhindern wollen. Lieber operativ abtreiben als gar nicht. Nur sicher muss es sein.
Sie wollen eigentlich Abtreibung so selbstverständlich machen wie Verhütung.
Ich arbeite an einem Projekt, das genau das plant: Mifepriston soll in Apotheken als regelmässiges Verhütungsmittel in reduzierter Dosis und ohne Rezept zu bekommen sein. Damit würde nicht mehr zwischen Abtreibung und Verhütung unterschieden. Frauen könnten das Medikament einnehmen, wann sie wollen und wie viel sie wollen: wöchentlich oder nur, wenn sie Sex haben, davor oder danach, oder wenn sie ungewollt schwanger werden. Es enthält kein Östrogen und hat somit keine hormonellen Nebenwirkungen wie Stimmungsschwankungen oder Libidoverlust. Und: Es hilft auch bei Unterleibserkrankungen wie Myomen oder Endometriose.
Mifepriston wurde in den 1980er Jahren in Frankreich entwickelt und zum ersten Mal zugelassen. Wieso wurde es nicht schon von Anfang an als Verhütungsmittel angeboten, wenn es so viele Vorteile hat?
Um es als solches anzubieten, brauchte es mehr Wissen, und dieses entwickelte sich erst nach und nach. Am Anfang hat Mifepriston selbst als Abtreibungspille nicht gut funktioniert. Erst in Kombination mit Misoprostol wurde es wirklich zuverlässig.
Wie würde die Verhütung mit Mifepriston denn aussehen?
Man könnte das Medikament zum Beispiel mit Fruchtbarkeits-Apps kombinieren, die sind ja mittlerweile sehr sicher. Wir sind weiter als noch vor fünfzig Jahren. Frauen wissen heute besser über ihre sexuelle Gesundheit Bescheid. Sie kennen ihren Körper, ihren Zyklus. Und bleibt die Menstruation dennoch einmal aus, können sie Mifepriston einnehmen, um sie wieder zurückzubekommen.
Der Kampf für oder gegen Abtreibung wird auch mit der Sprache ausgetragen. Wenn Sie sagen, «die Menstruation zurückbekommen», meinen Sie eigentlich: abtreiben.
Ja, wobei wir es «Überbrückungsbehandlung» nennen. Es gibt zu diesem Zeitpunkt ja noch keine wirkliche Schwangerschaft, sondern nur Schwangerschaftshormone.
Sie haben Apps angesprochen. Auf dem Cover des «New York Magazine» stand jüngst: Dieses Magazin kann Ihnen helfen abzutreiben. Ist das die richtige Art, solche Informationen zu verbreiten?
Die Frage ist, ob es die richtigen Leute erreicht. Nicht alle, die abtreiben wollen, lesen solche Zeitschriften. Das ist auch eine Frage der Schicht. Aber es gibt viele Orte, an denen sich Menschen mittlerweile informieren können: auf Tiktok, Youtube, Google. Wobei die alle Algorithmen anwenden, die bestimmen, welche Informationen einem bei einer Suche angezeigt werden. Meistens sind die stark lokalisiert. Es ist sehr schwierig sicherzustellen, dass jede Frau die Informationen bekommt, die sie braucht.
Auf Ihrer Website warnen Sie vor gefälschten Websites.
Ja, das ist ein riesiges Problem. Wenn Frauen auf Google nach «Abtreibung» suchen, erhalten sie Links zu Sites von Abtreibungsgegnern, die vorgeben, den Frauen bei einer Abtreibung helfen zu wollen. Aber in Wirklichkeit wollen sie die Frauen davon abhalten. In den USA gibt es mehr «Beratungsstellen», die von Abtreibungsgegnern betrieben werden und Frauen fundamental falsch informieren, als echte Abtreibungskliniken.
Das «New York Magazine» gab Abtreibungstipps, unter anderem führte es eine Liste mit Kontakten und Kliniken auf. Aber es enthielt auch eine Warnung: dass Frauen im Fall einer Abtreibung die Apps löschen sollen, mit denen sie ihren Menstruationszyklus aufzeichnen.
Solche Warnungen lösen Angst aus.
Aber sollten sich Frauen nicht zumindest bewusst sein, dass bei einer Abtreibung je nach Gesetzeslage wegen der Datenspur, die sie hinterlassen, gegen sie ermittelt werden kann?
Auch nachdem «Roe v. Wade» nun gekippt worden ist, ist es unwahrscheinlich, dass Frauen, die abgetrieben haben, in den USA rechtlich verfolgt werden. In den meisten Fällen erfährt niemand, dass sie abgetrieben haben. Ausser wenn sie wegen Komplikationen eine Ärztin oder einen Arzt aufsuchen müssen. Und dann können sie sagen, dass es eine Fehlgeburt war. Sobald sie das Medikament geschluckt haben, lässt sich der Unterschied zwischen einer eingeleiteten Abtreibung und einer natürlichen Fehlgeburt nicht mehr feststellen – auch nicht von Ärztinnen und Ärzten.
Also lügen statt Daten vernichten?
Es gibt sowieso keinen sicheren digitalen Space. Auch nicht, wenn man einen Tor-Browser oder den Messenger Signal benutzt. Viel wichtiger als eine saubere Datenspur ist, dass die Frauen wirklich davon überzeugt sind, dass sie das Richtige tun. Es ist die Selbstzensur, die sie verletzlich macht.
Wie meinen Sie das?
Wenn sich die Frauen dafür schämen, dass sie abgetrieben haben, sei das vor ihren Freundinnen oder vor ihrer Familie, macht sie das angreifbarer. Wenn sie hingegen überzeugt sind, dass das moralisch richtig war, dass ihnen dieses Recht zusteht, können sie ganz anders für sich selber einstehen. Sie werden auch, wenn es dazu kommen sollte, einen anderen Anwalt finden, nämlich einen, der sie ebenfalls mit Überzeugung vertritt, und nicht jemanden, der sie dazu motiviert, mit einem Schuldeingeständnis voller Scham eine Strafreduktion zu erwirken. Sie werden also auch vor Gericht anders auftreten. Das ist ein Grundsatz, von dem ich überzeugt bin: dass wir alles, was wir tun, mit Überzeugung tun sollten. Selbstzensur ist in dem Sinn eine viel grössere Gefahr als Überwachungstechnologien.
Ist das nicht naiv? Sehen Sie die Technologie denn ausschliesslich als etwas Positives?
Ja, an und für sich schon. Dank Drohnen, Internet, Robotern ist es für uns heute viel einfacher, dafür zu sorgen, dass Abtreibungspillen ihre Empfängerinnen erreichen.
Seit 2018 setzen Sie auch kleine Lieferroboter ein, um Frauen mit Medikamenten zu versorgen. Zuerst in Nordirland und dann in Mexiko.
Letztes Jahr haben wir diese Lieferroboter von Mexiko-Stadt aus gesteuert, wo Abtreibung legal ist, und damit in elf Staaten, in denen Abtreibung verboten ist, Medikamente ausliefern lassen. Wir haben also die Strategie von multinationalen Unternehmen kopiert. Diese nutzen ja auch unterschiedliche Gerichtsbarkeiten. Einfach zu einem anderen Zweck: Sie wollen Profit, wir wollen Menschenrechte maximieren. (Lacht.)
Das hat eine gewisse Symbolik, die über die praktische Bedeutung dieser Schlupflöcher hinausweist.
Indem wir Gesetzeslücken ausnutzen, weisen wir auch auf die Willkürlichkeit von Gesetzen hin.
Die Aktion mit den Robotern fiel auch in die Zeit der Pandemie. War das auch eine Reaktion darauf, dass mit den Lockdowns Abtreibungen schwieriger wurden?
In manchen Ländern wurden Abtreibungen sogar einfacher. Die Pandemie hat der Telemedizin, bei der Beratungen übers Internet oder via Telefon stattfinden, einen Schub verliehen. In Grossbritannien gehörte telemedizinische Abtreibung vorübergehend zur Standardversorgung. Jetzt ist sie auf unbestimmte Zeit zugelassen. In den USA und Frankreich war die Entwicklung dieselbe und in anderen Ländern auch.
Telemedizin ist nicht überall verfügbar und auch nicht überall zugelassen.
Dort war die Pandemie ein echtes Problem – gerade wenn man in Quarantäne war oder im Lockdown das Haus ohne triftigen Grund nicht verlassen durfte. In den Niederlanden sind wir vor Gericht gegangen, weil Telemedizin nicht zugelassen ist. Ohne Erfolg. Die Abtreibungskliniken waren dagegen, weil sie die Abbrüche begleiten wollten.
Wird die Telemedizin denn den emotionalen Bedürfnissen der Betroffenen gerecht? Kann in einer Online-Beratung auch Trost vermittelt werden?
Das ist doch eine Suggestivfrage, die automatisch davon ausgeht, dass sie nach einer Abtreibung Betreuung brauchen.
Eine Abtreibung ist für viele Frauen eine prägende Erfahrung, die emotional belastend sein kann.
Aber nicht alle wollen getröstet werden. Falls Betroffene um Betreuung oder Beratung bitten, verweisen wir sie an die entsprechenden Stellen.
2007, drei Jahre nachdem Sie mit Ihrem Abtreibungsschiff in Portugal angelegt hatten, wurde Abtreibung im Land legalisiert. Danach ging die Zahl der Abtreibungen nach oben. Die Abtreibungsgegnerinnen und -gegner fühlten sich bestätigt.
Natürlich verzeichnete Portugal nach der Legalisierung in der Statistik mehr Abtreibungen. Aber das heisst nicht, dass es tatsächlich zu mehr Abtreibungen kam. Nur, dass mehr registriert wurden.
Abtreibungsgegnerinnen und -gegner unterstellen, dass Frauen nach der Legalisierung weniger umsichtig verhüten würden.
In dieser Unterstellung steckt so viel Misogynie und Misstrauen. Und wieso behauptet man das nur von den Frauen, aber nicht von den Männern? Wieso unterstellt man nicht den Männern, dass diese weniger vorsichtig beim Sex sind, sobald Abtreibung legalisiert ist?
Das Pendel schwingt gerade in die andere Richtung. Am Freitag kippte der amerikanische Supreme Court das nationale Recht auf Abtreibung, nachdem es fast fünfzig Jahre in Kraft war.
Wir bei «Women on Waves» haben dieses Szenario oft diskutiert. Aber wir haben nicht erwartet, dass der Entscheid so grundsätzlich ausfallen würde. Er zeigt, dass auch andere Rechte rückgängig gemacht werden könnten, wenn sie nicht in der amerikanischen Verfassung stehen. Ein Beispiel ist die Beschränkung des Waffenrechts in New York, die der Supreme Court jüngst als verfassungswidrig einstufte.
Der Entscheid ist ein enormer Rückschlag für Ihre Bewegung.
Für viele Frauen wird er nichts ändern. Ein erheblicher Teil der in den USA lebenden Frauen macht bereits jetzt die Erfahrung, dass sie sich Abtreibungen nicht leisten können, dass sie nicht reisen können, dass sie mit Demonstrierenden konfrontiert sind, dass es zu viele Stigmata gibt. Aber viele andere wird es vor neue, einschneidende Hindernisse stellen.
Aber dass nun das Recht auf Abtreibung, für das Sie sich seit den 1990er Jahren einsetzen, in den USA, einem der grössten Länder der Welt, rückgängig gemacht wurde, muss sich zumindest für Sie als Niederlage anfühlen.
Nein. Einerseits glaube ich nicht, dass es bei dem Entscheid nur um Abtreibung geht. Es geht vielmehr um den Zustand der amerikanischen Demokratie. Die konservativen Richterinnen und Richter, die «Roe v. Wade» gekippt haben, werden noch lange im Amt sein und die Gesetzgebung in ihrem Sinne beeinflussen. Und viel wichtiger: Ich habe eine ganz andere Perspektive auf diese Jahrzehnte. Ich bin ja seit zwanzig Jahren mit der Situation konfrontiert, dass ich Frauen helfe, die gar keinen legalen Zugang zu Abtreibung haben – obwohl das Urteil «Roe v. Wade» in dieser Zeit immer in Kraft war. Da waren für mich persönlich andere Momente viel schwieriger.
Welche?
Als Länder wie Brasilien oder Polen anfingen, die Post zu kontrollieren und so keine Abtreibungspillen mehr ins Land liessen. Das fand ich sehr schwierig. Oder als die Türkei anfing, unsere Website zu zensieren, damit sie von Türkinnen nicht mehr gefunden werden konnte. Das ist auch in Saudiarabien, in Südkorea und sogar in Spanien passiert.
2005 haben Sie «Women on Web» gegründet und drei Jahre später mit «Aid Access» ein ähnliches Programm für die USA gestartet. Beide Organisationen beraten Frauen online, stellen ihnen ein Rezept aus für Abtreibungspillen und stellen diese dann per Post zu. Haben Sie mit der Gründung von «Aid Access» das Ende von «Roe v. Wade» praktisch antizipiert?
Nein, es gab einfach immer mehr Amerikanerinnen, die sich bei uns meldeten. Um ihnen zu helfen, mussten wir aus rechtlichen Gründen ein separates Programm starten. Sie sind in der Schweiz, oder?
Ja.
Bei uns melden sich auch Frauen aus der Schweiz.
Warum greifen Frauen aus Ländern wie den USA oder sogar der Schweiz, wo Abtreibungen legal sind, auf «Aid Access» oder «Women on Web» zurück?
Weil nicht alle so abtreiben können, wie sie es sich wünschen würden. Manche können nicht in eine Klinik oder ein Krankenhaus gehen, sprechen die Sprache nicht, haben kein Geld oder keine Papiere, oder ihr Partner darf es nicht erfahren. Solange Abtreibungsmedikamente nicht in der Apotheke erhältlich sind wie die Pille danach, ist ein legaler und sicherer Schwangerschaftsabbruch nicht für alle zugänglich.
Als Sie «Aid Access» gründeten, haben Sie von der amerikanischen Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA) ein Unterlassungsschreiben bekommen. Damit wollte die FDA «Aid Access» einstellen lassen. Sie haben dagegen geklagt – und verloren.
Ich habe nicht erwartet, dass wir gewinnen würden. Ich wollte einfach dieser Einschüchterung entgegentreten und anbringen, dass ich als Ärztin medizinisch, moralisch und rechtlich verpflichtet bin, den Frauen zu helfen, die sich an mich wenden, und dass es den Frauen schadet, wenn sie nicht (sicher) abtreiben können. Für Frauen ist es weniger wahrscheinlich, bei einer Abtreibung infolge von Komplikationen zu sterben als bei einer Schwangerschaft, die sie bis zum Schluss austragen.
Nicht alle Ärztinnen und Ärzte sehen das so wie Sie. In Italien sind Abtreibungen seit 44 Jahren erlaubt, doch viele Ärztinnen und Ärzte verweigern den Eingriff. Sie dürfen das aus Gewissensgründen tun, fast drei Viertel sollen solche Gründe anführen. Gibt es eine Moral in der Medizin?
Als Ärztin will ich die öffentliche Gesundheit und als Abtreibungsärztin die weibliche Gesundheit verbessern. Ich bin überzeugt, dass die öffentliche Gesundheit besser ist, wenn Frauen eigenständig entscheiden könnten. Es darf keine «Gatekeeper» geben – auch ich als Ärztin darf das nicht sein.
Als Ärztin fühlen Sie sich den Frauen verpflichtet. Was ist Ihre Mission als Aktivistin?
Ich will dafür sorgen, dass Frauen ihr Leben, und damit ihren Körper, vollständig und selbständig kontrollieren können. Das ist meine Mission. Mehr nicht.
Frauen sollen die Wahl haben. Das heisst auch, dass sie entscheiden dürfen, wer Vater wird und wer nicht. Sollten Männer diesbezüglich nicht auch mitreden können?
Um es zugespitzt zu sagen: Männer können entscheiden, ob sie in ihrer Partnerin ejakulieren oder nicht.
Und wenn das Kondom reisst?
Dann ist es, trotz dem Dilemma, das das mit sich bringt, die Entscheidung der Frau. Die Konsequenzen werden in ihrem Körper ausgetragen: Sie wird schwanger, sie muss gebären, sie wird gefährdet. Der Mann kann entscheiden, ob er sie bei der Entscheidung, die sie trifft, unterstützen will oder nicht. Und manche Männer machen das sehr engagiert und empathisch.
Männer, die nicht einverstanden sind und eigentlich eine Abtreibung wünschten, versuchen sich immer wieder ihrer finanziellen Verpflichtung zu entledigen. Abtreibungsgegner glauben, dass dies wiederum zu mehr Abtreibungen führt, weil Frauen mit einer finanziellen Notlage rechnen würden. Sie sagen: Gäbe es mehr Sozialleistungen, brauchte es keine Abtreibungen.
Die Gesellschaft sucht immer nach Gründen, warum jemand kein Kind haben will. Der Gedanke dabei ist: Wenn man weiss, warum, kann man etwas dagegen tun und das «Problem» beheben. Aber das Problem ist ja vielmehr, dass es ungewollte Schwangerschaften gibt – und um das zu lösen, müsste man woanders ansetzen. Abtreibung ist nur eine Antwort darauf, dass Frauen oder Familien keine Kinder (mehr) wollen. Gleichzeitig fände ich es gut, wenn es mehr Sozialleistungen gäbe – besonders in den USA. Aber das wird es nicht richten. In Schweden haben Frauen ein Jahr Schwangerschaftsurlaub, und es gibt Kinderbetreuung für alle, aber die Abtreibungsrate ist auch dort nicht niedriger als anderswo.
Gibt es eine abtreibungsfreie Welt?
Nein. Warum sollte es das geben? Es ist meine absolute Überzeugung, dass eine Abtreibung eine akzeptable Art ist, zu regulieren, ob man Kinder hat oder nicht. Egal, ob man es einmal oder zehnmal macht – es ist nicht verwerflich, sondern sogar verantwortungsvoll, wenn man keine Kinder haben will.
Eine von drei Frauen treibt einmal im Leben ab. Sie haben auch abgetrieben, haben sich aber entschieden, diese Information erst öffentlich zu machen, als Sie erneut schwanger waren und das Baby behalten wollten. Warum?
Es bestand die Gefahr, dass meine Motivation als Abtreibungsaktivistin auf meine eigene Abtreibung reduziert worden wäre. Aber nicht alle, die sich für Abtreibung einsetzen, haben auch selbst abgetrieben – das wäre zu einfach gedacht. Ich habe es dann später öffentlich gemacht, weil ich überzeugt bin: Wer nicht offen darüber spricht, trägt zur Stigmatisierung bei.
Erinnern Sie sich, wann Sie zum ersten Mal von Abtreibung gehört haben?
Das weiss ich nicht mehr genau. Wohl als Teenager. Bei meinen Kindern habe ich nicht so lange gewartet. (Lacht.) Die wussten schon sehr früh, was ich tue. Später waren sie sogar selbst involviert. Mein Sohn flog zum Beispiel die Drohne nach Nordirland. Und meine Tochter ging oft mit mir demonstrieren.
Ihre Eltern entstammen noch einer Generation, für die Abtreibung etwas Illegales war. Was denken sie über Ihre Arbeit?
In den Niederlanden wurde Abtreibung 1984 legalisiert. Abtreibung war ein Tabu für meine Eltern. Als ich mit dem Abtreibungsaktivismus anfing, mussten sie sich darum erst an den Gedanken gewöhnen. Doch dann haben sie mich sehr unterstützt. Als wir 2003 mit dem Schiff in Polen anlegten, vertaute mein Vater am Hafen die Seile. Woraufhin eine fremde Frau ihn angriff, ihm auf den Kopf schlug. Meine Mutter musste sie wegziehen. Sie geben also alles. (Lacht.)
Haben Sie sich an solche Angriffe gewöhnt?
Portugal hat mit Kriegsschiffen 2004 versucht, unser Abtreibungsschiff davon abzuhalten, in ihre nationalen Gewässer vorzudringen, 2012 wurden wir in Marokko aus dem Hafen gejagt. Aber die Angriffe in Polen waren anders. Ich wurde dort als Nazi beschimpft. Und wir wurden mit Eiern und Farbe beworfen. Diese Art von physischer Aggression haben wir in anderen Ländern nicht erlebt.
Im Podcast «The Daily» der «New York Times» erzählte eine Abtreibungsärztin, dass ihr Mann ihr eine kugelsichere Weste gekauft habe. Hat die Opposition ihren Ton und ihre Taktik geändert? Ist sie radikaler geworden?
Auch in den achtziger Jahren wurden in den USA Ärztinnen und Ärzte getötet. Es gab sogar Bombenanschläge. Aber die USA sind auch ein extremer Ort. Schauen wir uns andere Länder an. Was sich zum Beispiel in den Niederlanden geändert hat, ist, dass die Opposition ihren Fokus verschoben hat und jetzt sagt, sie wolle Frauen unterstützen statt Föten retten.
Waren Sie jemals an einem Punkt, an dem Sie dachten, dass es zu gefährlich, zu hart ist und dass Sie aufhören wollen?
Klar gab es Momente, in denen ich darüber nachgedacht habe, ob das, was ich tue, sinnvoll und sicher ist.
Was war so ein Moment?
Zum Beispiel, als ich wegen «Aid Access» den Unterlassungsbrief bekam.
Es war eine Frau, die in Polen Ihren Vater angegriffen hat. Was denken Sie über die Frauen, die gegen Abtreibung sind?
Alle sollen finden und fühlen, was sie wollen. Aber ich finde es nicht besonders schlau, gegen etwas zu kämpfen, was man selber vielleicht später einmal in Anspruch nehmen möchte. Oder zumindest die Wahl dafür oder dagegen haben möchte. Abtreibungsgegnerinnen werden schnell ihre Meinung ändern, wenn sie ungewollt schwanger sind.
Indem sie Abtreibung ablehnen, stellen diese Frauen etwas infrage, wofür Sie, Frau Gomperts, seit zwanzig Jahren kämpfen und von dem Sie überzeugt sind, dass es richtig ist und rechtmässig sein sollte.
Das Einzige, wovon ich überzeugt bin, ist, dass Frauen die Wahl haben sollten. Wenn eine Frau findet, dass sie keine Abtreibung braucht oder will, dann habe ich damit kein Problem. Die Gegnerinnen und Gegner haben aber ein Problem mit mir, weil es für sie im Szenario Schwangerschaft gar keine Wahl geben darf. Und darin liegt auch der grundlegendste Unterschied zwischen denen, die Abtreibung befürworten, und jenen, die sie ablehnen. Die Gegnerinnen und Gegner wollen andere daran hindern, das Recht auf Abtreibung in Anspruch zu nehmen. Ich will, dass alle dieses Recht haben und dann entscheiden können, was sie damit anfangen wollen.
Eine Ärztin auf hoher See
Rebecca Gomperts ist Ärztin und international tätige Abtreibungsaktivistin. Sie hat die Organisationen «Women on Waves», «Women on Web» und «Aid Access» gegründet, die allesamt medikamentöse Abtreibungen für Frauen in Ländern anbieten, in denen diese nicht ausreichend verfügbar sind. Für ihre Arbeit hat sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten, unter anderem wurde sie 2020 vom amerikanischen Nachrichtenmagazin «Time» zu den 100 einflussreichsten Personen der Welt gezählt. Gomperts wurde 1966 in Surinam geboren und wuchs in den Niederlanden auf. Sie studierte Medizin und Kunst an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam. Nach ihrem Medizinstudium arbeitete sie in einem Krankenhaus in Guyana. 1997/98 war sie Schiffsärztin und Umweltaktivistin auf dem Greenpeace-Schiff «Rainbow Warrior». 2011 machte sie einen Master in Public Policy an der Princeton-Universität. 2014 promovierte sie am Karolinska-Institut in Schweden. Im selben Jahr erschien der Dokumentarfilm «Vessel» über ihre Arbeit als Abtreibungsaktivistin. Gomperts hat zwei Kinder und lebt in Amsterdam.