Text: Elena Lynch
Medium: watson, 13.1.2023
Yaël Meier ist 22 und zum zweiten Mal schwanger. Das hat sie am Dienstag auf der Social-Media-Plattform LinkedIn mitgeteilt. Sie schreibt, die Schwangerschaft verändere alles – und nichts. Seit sie vor zwei Jahren zum ersten Mal Mutter geworden sei, wisse sie: «Alles bleibt möglich.»
Auch als Mutter habe sie ihr Unternehmen von 3 auf 30 Mitarbeitende ausbauen, reisen, feiern, geniessen und ihre Karriere vorantreiben können. Sie schreibt: «Auch wenn die Wirtschaft und Gesellschaft Frauen vor eine andere Realität [zu] stellen versuchen: Es ist 2023 und wir [Frauen] können alles schaffen, was wir wollen!»
Dieser Motivationsspruch ist gut gemeint, aber falsch gedacht. Es ist wichtig, zu zeigen, was man als junge Frau alles schaffen kann. Und was Meier in ihrem jungen Leben erreicht hat, ist zweifellos inspirierend: Mit 14 wurde sie Schauspielerin. Mit 17 Journalistin. Mit 19 Gründerin. Mit 20 Mutter und von Forbes zu den «30 under 30» und von LinkedIn zur «Top-Voice 2020» gewählt.
Rennen des Lebens
Aber noch wichtiger wäre es, anzuerkennen, unter welchen Umständen man das alles erreicht hat. Und das geht höchstwahrscheinlich über die harte Arbeit hinaus, auf die Meier ihren Erfolg zurückführt. So sagt sie in der NZZ: «Es ist nicht alles so einfach, wie es scheint. Es steckt viel Arbeit dahinter.»
Aber Eigenleistung ist nicht alles.
Vor einer Weile ging ein Video aus den USA viral. Ein Sportlehrer liess seine Schülerinnen und Schüler zu einem Rennen antreten. Vor dem Start stellte er folgende Fragen: «Sind deine Eltern noch zusammen?» «Bist du mit einer verlässlichen Vaterfigur aufgewachsen?» «Hattest du Zugang zu Nachhilfe?» «Kannst du ohne Stipendium studieren?» «Hatten deine Eltern immer genug Geld?»
Trafen die Sätze zu, durften die Teilnehmenden zwei Schritte vorausgehen. Alle anderen mussten bleiben, wo sie waren. Am Ende wurde ersichtlich: Das Rennen (des Lebens) werden wohl diejenigen mit dem grössten Vorsprung gewinnen.
30’000 Franken für NFT-Avatare
Der Ansatz, dass alles möglich ist, ist eine Lüge. Nicht alle haben dasselbe (Start-)Kapital. Damit ist, zum einen, ökonomisches Kapital wie Geld gemeint. Meier ist in einem Einfamilienhaus in Vitznau am Vierwaldstättersee aufgewachsen, mit Garten und Seeblick. Also nicht in einer Blockwohnung in Spreitenbach. Das kann einen Unterschied machen.
Nicht nur wie man aufgewachsen ist, sagt etwas darüber aus, wie gut man gebettet ist, sondern auch, wo man studiert hat. Meier selbst hat nicht studiert. Ihr Partner Jo Dietrich (mit dem sie sich die Finanzen teilt und ihr Unternehmen gegründet hat) hat hingegen einen beachtlichen Studienweg hinter sich: Er hat unter anderem an der Nova School of Business and Economics in Lissabon studiert, wo die Studiengebühren für einen zweijährigen Master in Management 19’134 Euro betragen.
Das sind Beträge, die nicht allen zur Verfügung stehen – und die dafür sorgen, dass man im Rennen des Lebens schneller vorankommt und anfangs 20 ein Unternehmen gründen oder für zwei NFT-Avatare 30’000 Franken ausgeben kann, so wie es die beiden konnten.
In einem Interview mit elleXX sagt Meier zwar: «Die Gründung einer Agentur ist nicht mit hohen Investitionskosten verbunden und wir konnten uns direkt über erste Projekte finanzieren. Ausserdem haben wir unsere privaten Ausgaben minimiert und uns lange sehr wenig ausbezahlt. Das ist einer der Vorteile, wenn man jung gründet: Man muss gar noch nicht so viel verdienen. Je älter man ist, desto höher werden die Fixkosten.»
Aber selbst das Risiko, mit seinem Start-up zu scheitern, muss man sich leisten können. Es geht um die Gewissheit, aufgefangen zu werden, wenn etwas schiefläuft. Nicht alle haben diese Garantie.
Zum anderen ist mit (Start-)Kapital auch soziales Kapital wie Kontakte gemeint. Diese tragen laut dem Soziologen Pierre Bourdieu dazu bei, «dass Karrieren, Macht und Reichtum nicht nur auf individuellen Leistungen basieren, sondern auch auf herkunftsbedingten Gruppenzugehörigkeiten und anderen vorteilhaften Verbindungen im Sinne des ‹Vitamin B›.»
Meier wurde früh zur öffentlichen Person. Das bringt Beziehungen. Aber zum sozialen Kapital sollen hier nicht nur Personen zählen, die man kennt, sondern auch Personen, auf die man sich verlässt. Mütter, die jederzeit das Kind hüten. Grossmütter, die bei der Babyparty helfen.
Hat man solche Helferinnen nicht, weil sie nie da waren oder arbeiten müssen, wo steht man dann im Rennen des Lebens?
Verzerrtes Bild
Yaël Meier will Vorbild sein, vermittelt aber ein verzerrtes Bild. Zu sagen, dass man alles schaffen kann, suggeriert auch: Schaffst du es nicht, bist du schuld. Mit dieser Mentalität trägt sie zum «Survivorship Bias» bei.
Heisst: Erfolgreiche Zustände sind sichtbarer als erfolglose – insbesondere in den sozialen Medien. Darum neigen wir dazu, zu denken, dass Scheitern die Ausnahme, statt die Regel ist. In Wahrheit ist es aber umgekehrt, nur schlägt sich das in der Statistik selten nieder. Von denen, die es nicht geschafft haben, hört man selten.
Das kann die Wahrnehmung, dass etwas möglich ist, verzerren. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass man etwas schaffen kann, wird systematisch überschätzt. Das kann auch auf die Psyche drücken.
Umso wichtiger wäre es, zu zeigen, was schiefläuft. Mit ihrer Reichweite von 90’000 Follower auf LinkedIn könnte Meier viel verändern.
In einem Jahresrückblick versuchte sie genau das. Auf LinkedIn listete sie auf, was im vergangenen Jahr missglückt ist: Ihre ersten Familienferien verbrachten sie vor allem im Kinderspital. Sie habe ihr Herzensprojekt an die Wand gefahren und einen Shitstorm geerntet. Das ist real.
Leider enthielt die Liste aber auch «First World Problems», die sich eher als Erfolge, statt als Misserfolge lesen lassen: Die Preise ihrer NFTs seien eingebrochen. Ihr Buch habe die zweite Woche in der SPIEGEL-Bestsellerliste verpasst. Manchmal habe sie mehr Zeit auf Geschäftsreise als daheim verbracht. Arbeit, Interrail und Kind seien zu viel gewesen.
Privilegien anerkennen
Yaël Meier gehört der Generation Z an. Das Erklären ihrer Generation hat sie erst zu ihrem Markenzeichen, dann zu ihrem Geschäftsmodell gemacht. Mit ZEAM unterstützt sie Unternehmen dabei, diese Gruppe zu erreichen. Zu den Kunden gehören Groupe Mutuel, Swisscom, Raiffeisen, Allianz, Google, Adidas, UBS, Schweiz Tourismus, Mobiliar.
Meier vertritt die Generation Z nach oben und vergisst dabei, dass dieser auch Menschen angehören, die andere Mittel und damit andere Möglichkeiten haben als sie selbst. Erst wenn sie ihre Privilegien öffentlich anerkennt, ist sie als Repräsentantin der woken Generation Z wirklich glaubwürdig.
Einen ersten Schritt in die richtige Richtung hat Meier schon gemacht. Auf LinkedIn reagierte sie am Freitag auf Kritik und korrigierte: «Für mich ist alles möglich.»