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Steve Bray vor vier Jahren mit seinem Megaphon im Parliament Square.    © Richard Baker/Getty Images

Im Morgenmantel, aber immer mit Megafon

Seit Jahren protestiert Steve Bray gegen den Brexit – zäh, mit Witz und wenn es sein muss mit einem Pfahl aus dem Baumarkt. Was treibt ihn an?

Text: Elena Lynch

Medium: ZEIT ONLINE, 31.01.2024

 

An einem dunklen Mittwochmorgen im Januar vor dem Parlament in London, noch wenige Minuten, bis die Journalistin live in der Frühstücksendung Good Morning Britain des Senders ITV zu sehen sein wird. Der Kameramann hat schon das Licht auf sie gerichtet, da hört sie jemanden «Good morning, Louise!» sagen. Es ist Steve Bray. Ihr ist klar, was gleich passieren wird: Sobald sie live ist, wird sich Bray mit Schildern hinter sie stellen, auf denen «Brexit got the UK done» (Der Brexit hat Großbritannien fertig gemacht) und «Stop the Tories» (Die Torys stoppen) steht. Sie schaut in die Kamera und berichtet über den Postskandal. Um Bray kümmert sie sich nicht mehr, ist ja nicht das erste Mal, dass ihr das passiert.

 

Wahrscheinlich alle britischen Fernsehmoderatoren, Politiker, alle Mitarbeiter von Westminster, ja sogar alle, die in den vergangenen sieben Jahren auch nur zufällig mal britische Nachrichten angestellt haben, kennen Steve Bray. Der signature move, das Markenzeichen des 54-Jährigen, ist seit sieben Jahren: sich während Livesendungen mit Schildern hinter Journalisten zu stellen. Versuchen Fernsehteams, ihn durch einen Kamerawechsel aus dem Bild zu bekommen, wechselt er vor die andere Kamera.

 

Bei einer BBC-Aufzeichnung gelang es ihm durch dieses Kamerahüpfen, ganze zwei Minuten im Bild zu bleiben. Als die Sender BBC und Sky daraufhin aus Baugerüsten eine fünf Meter hohe Plattform bauten, um oben in Ruhe Interviews führen zu können, kaufte Bray einen fünf Meter hohen Mast und hisste hinter der Plattform eine EU-Flagge. «Sie haben 10.000 Pfund für die Plattform gezahlt – und ich habe im Baumarkt 4,60 Pfund für den Mast ausgegeben», sagt er voller Schadenfreude.

 

Vor vier Jahren entschied Großbritannien, die Europäische Union zu verlassen. Inzwischen bereuen laut der Umfrage bis zu 60 Prozent der Briten – so viele wie noch nie – den Brexit. Der Austritt ist noch ein Phantomschmerz, aber niemand scheint mehr darüber reden zu wollen.

 

Selbst Bray, der Brexit-Diehard, konzentriert sich inzwischen mehr auf die Regierung. Auf den drei Bannern, die er an jenem Mittwoch im Januar dabeihat, werden auf zwei die Torys beschimpft und nur auf einem der Brexit bedauert. Denn erst, wenn die Torys entmachtet und Labour gewählt sind, wird sich der Ton in der politischen Debatte wieder ändern, da ist er sich sicher.

 

Vom Münzhändler zum Dauerdemonstranten
Brays Politisierung begann mit dem Brexit-Referendum 2016. Damals handelte er mit Münzen und wohnte in Port Talbot in Wales, einer armen Gemeinde, in die die EU viel Geld investiert hatte. Als dort die Mehrheit für den Austritt stimmte, verstand Bray die Welt nicht mehr. Für ihn war offensichtlich, dass die Leave-Leute, angeführt von Boris Johnson und Michael Gove, mit falschen Versprechen das Volk verhöhnen. Diese Meinung vertrat er auch auf Facebook, wo er nach dem Referendum ein halbes Jahr durchgehend über den Brexit diskutierte. Als er merkte, dass ihn der Streit und die Trolle im Internet nicht weiterbrachten, schloss er sich Anti-Brexit-Demonstranten an.

 

Auf seinem ersten Marsch 2017 fuhr er einen deutschen Karnevalswagen mit einem riesigen Modell von Theresa May mit einer Pistole im Mund durch London und dann durch ganz Großbritannien, bis das Pappmaschee kaputtging. Dann kamen die vorgezogenen Parlamentswahlen 2017, bei denen May die Mehrheit verlor und trotzdem an der Regierung blieb, weil sie mit der nordirischen Democratic Unionist Party ein Minderheitskabinett bildete. Für Bray ein neuer Höhepunkt der politischen Täuschung. Jetzt musste auch der Protest stärker werden, entschied er und plante seine erste Aktion allein: Eine Woche lang stand mit einer EU-Fahne vor dem Parlament in London und schlief im Hyde Park. «Ich nannte den Protest ‹Keinen Pfennig mehr› und gab in dieser Woche kein Geld aus und zahlte keine Steuern.»

 

Kurz darauf, während das Parlament Sommerpause machte, stellte Bray fest, dass ihm das nicht reichte, wie er heute sagt: «Ich war überrascht, wie wenig Gegenwehr es gab, wenn man bedenkt, wie viel auf dem Spiel stand. Ich hatte erwartet, dass Tausende auf die Straße gehen würden, aber da war nichts.» Er entschied kurzerhand, den fehlenden Protest selbst zu stemmen und wurde Vollzeitdemonstrant: Er zog von Port Talbot nach London und verkaufte seine wertvollsten Münzen für 15.000 Pfund, um seinen Protest zu finanzieren. Als dieses Geld nach einem Jahr aufgebraucht war, sammelte er Spenden.

 

Die Einnahmen erlaubten es ihm, eine Wohnung in Westminster zu mieten und näher am politischen Geschehen zu sein. Er entschied sich für eine Wohnung in der Straße, in der auch der Hauptsitz der Torys liegt. Sobald er das Blaulicht oder die Pfeifen der Polizeieskorten bemerkte, rannte er auf die Straße, manchmal noch im Morgenmantel, aber immer mit Megafon, und beschimpfte die konservativen Politiker. In dieser Zeit stand Bray an vier bis fünf Wochentagen vor dem Parlament und ging auch an Wochenenden auf Demonstrationen und zu Konferenzen.

 

Wie ein Schelm
Bray glaubte nicht daran, dass der Brexit wirklich durchgezogen würde. «Erst als Boris Johnson am 24. Juli 2019 zum Premierminister gewählt wurde, verstand ich, dass der Brexit vielleicht doch kommen könnte. Bis dahin war ich überzeugt, dass der gesunde Menschenverstand sich in der Bevölkerung und in der Politik durchsetzen wird.»

 

Als die Torys schließlich die Parlamentswahlen im Januar 2020 gewannen und den definitiven Austritt aus der EU veranlassten, fühlte sich Bray emotional ausgelaugt. Nach 847 Tagen Dauerprotest musste er kürzertreten. Statt täglich zieht er seither nur noch einmal in der Woche vor das Parlament, meistens mittwochs, wenn sich der Premierminister um 12 Uhr einer Fragestunde stellen muss.

 

Erzählt Bray von seinen Aktionen, wirkt er wie ein Schelm, der den Obrigkeiten Streiche spielt und sich darüber freut, dass er damit durchkommt. «Es gibt so viele gute Geschichten», sagt er. Damals im Juli 2019, als Theresa May ihre Abschiedsrede hielt etwa, und Bray «Stop Brexit!» schrie. Mays Mann, der neben ihr stand, sagte dazu passend: «Ich war das nicht.»

 

Wieder beitreten
Oder, die Rücktrittsrede von Boris Johnson 2022. Während Johnson sprach, ließ Bray das Lied Bye Bye Baby von den Bay City Rollers spielen, dessen Refrain er mit «Bye Bye Boris» überspielt hatte. «Die vergangenen fünf Premierminister – von David Cameron bis Rishi Sunak – sie wissen alle, wer ich bin. Das zeigt, dass ich mit meinen Methoden etwas erreicht habe», sagt er.

 

Trotzdem ist der Brexit mittlerweile vier Jahre her und nur noch wenige in Großbritannien wollen überhaupt noch über das Thema reden. Hat Bray also seinen Zenit überschritten?

 

Bray selbst sieht das nicht so. Er will auch weiterhin jeden Mittwoch ein menschliches Mahnmal sein, bis Großbritannien wieder beigetreten ist, wie er sagt. Ob es dann als Mitglied der EU gelte oder als etwas anderes, sei ihm eigentlich egal, solange sich die Briten in Europa wieder frei bewegen und frei handeln könnten.

 

Brexit-Reue
Die gelbe Schleife auf seinem blauen Zylinder, auf der früher «Stop Brexit» stand, hat Bray mittlerweile ausgetauscht. «Why Brexit», steht nun dort. Für ihn ist der Brexit der Beginn von etwas Größerem: der Entlarvung eines mangelhaften politischen Systems. Deshalb macht Bray weiter.

 

Den Brexit durchzusetzen, habe die Regierung dermaßen absorbiert, dass sie von 2016 bis 2020 nichts anderes mehr angehen konnte. Das hat zum Verfall der öffentlichen Dienste beigetragen und dann kam noch die Pandemie hinzu.

 

Und jetzt, wo die Torys sich theoretisch wieder ihrer eigentlichen Aufgabe annehmen könnten, nämlich das Land zu regieren, stellen sie sich sehr schlecht dabei an: Boris Johnson feiert Partys während der Pandemie, Liz Truss fährt mit ihrem Minibudget die Wirtschaft an die Wand und, an jenem Mittwoch im Januar, behauptet Priti Patel im Parlament, dass sie sich stets für die Opfer des Postskandals eingesetzt habe, was aber, wie sich nach Recherchen im Hansard, dem Protokoll der Parlamentsdebatten herausstellt, schlichtweg nicht stimmt.

 

Die Torys stolpern von einer schrägen Szene und Schlagzeile zur nächsten, ohne erkennbare Einheit und ohne sichtbare Strategie, sodass sich die politische Debatte im Land in den vergangenen vier Jahren völlig verschoben hat, so sieht es Bray: von Für-oder-gegen-Brexit zu Für-der-gegen-die-Torys.

 

Jeden Mittwoch dieselbe Routine
An jenem Mittwochmorgen, als Bray erfolgreich auf Good Morning Britain erschienen ist und danach vergeblich versucht hat, ein Videointerview mit Kevin Hollinrake, dem zuständigen Minister für den Postskandal, zu stören, steht anschließend der Protest auf einer Verkehrsinsel gegenüber dem Parlamentsgebäude an. Jeden Mittwoch dieselbe Routine.

 

Mit drei anderen Anti-Brexit-Demonstranten lädt Bray Banner, Fahnen und Lautsprecher aus dem Kofferraum seines Autos. Helfen lässt er sich dabei nicht. Er weiß genau, wie er die Sachen auf den Transportwagen stapeln muss, damit alles draufpasst und nichts herunterfällt.

 

Wenig später befestigt die Gruppe ein Banner mit der Aufschrift «Never has so much been destroyed for so many by so few #Brexit» (Nie wurde so viel von so wenigen zerstört) vor der Winston-Churchill-Statue. Bray steht auf der anderen Straßenseite und nutzt das Mikrofon, um seinen Mitstreitern Anweisungen zuzurufen. Später weist er sie an, am Mikrofon die Slogans kurz- und knappzuhalten, die Passanten würden eh nur einen Satz erhaschen. «Er ist ein bisschen oberlehrerhaft», sagt eine Mitdemonstrantin.

 

Bray und seine Begleiter – an diesem Tag werden es noch an die 30 werden, viele von ihnen haben Familie in der EU und sind aus ganz Großbritannien angereist – verbringen den ganzen Tag auf der Verkehrsinsel. Lieder wie The Lunatics Have Taken Over The Asylum von Fun Boy Three laufen dabei auf maximaler Lautstärke, sie schwingen EU-Fahnen und halten nach Politikern Ausschau. Bray kennt deren Autos und die Abläufe für diesen Mittwoch auswendig: Um 11.30 Uhr, immer pünktlich, wird der Premierminister Rishi Sunak in einem Konvoi von schwarzen Land Rovers vorfahren, angekündigt durch das Blaulicht und das Pfeifen von Polizisten auf Motorrädern, die den Verkehr für ihn anhalten.

 

Auch zwei Polizisten verbringen den Tag auf der Verkehrsinsel. Am Morgen haben sie sich bei Bray vorgestellt. Der Premierminister komme in neun von zehn Fällen von rechts, erklärt Bray ihnen, und nur in einem von zehn Fällen von links. «Sunak lässt für seine Ankunft stets die entgegengesetzte Spur absperren, er mag den Auftritt, anders als May, die ist immer auf der richtigen Seite gefahren», sagt er und schaut auf seine Armbanduhr, «noch drei Minuten.» Und dann, die Glocken des Big Ben haben gerade begonnen zu schlagen, spielt sich alles genauso ab, wie Bray es vorausgesagt hat.

 

 

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